Verhandlung B 7/14 AS 10/21 R
Grundsicherung für Arbeitsuchende - ausländische Altersrente - Leistungsausschluss
Verhandlungstermin
08.12.2022 11:00 Uhr
Terminvorschau
M. M../. Jobcenter Dessau-Roßlau, beigeladen: Stadt Dessau-Roßlau - Sozialamt -
Umstritten sind die Aufhebung der Bewilligung von Alg II und die Erstattung von insgesamt 42 155,88 Euro.
Die 1947 geborene Klägerin siedelte im Mai 2004 von Russland, wo sie eine Altersarbeitsrente in Höhe von damals 2.365 Rubel monatlich bezog, nach Deutschland über. Bis Dezember 2004 erhielt sie vom beigeladenen örtlichen Sozialhilfeträger Hilfe zum Lebensunterhalt. Von Januar 2005 bis Oktober 2009 bezog sie vom beklagten Jobcenter Alg II. Weder im Erstantrag noch in den Fortzahlungsanträgen gab sie diesem gegenüber den laufenden Bezug der russischen Rente an. Nachdem der Beklagte auf ihren Rentenbezug hingewiesen worden war, legte die Klägerin nach Aufforderung Unterlagen über die Rente vor. Der Beklagte nahm die Leistungsbewilligungen von Januar 2005 bis Oktober 2009 zurück und forderte die Erstattung der erbrachten Leistungen sowie der Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung. Die Klägerin sei wegen des Bezugs der Rente von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Die fehlerhafte Bewilligung sei erfolgt, weil sie zumindest grob fahrlässig falsche und unvollständige Angaben gemacht habe.
Die dagegen erhobene Klage hat das Sozialgericht nach Beiladung des örtlichen Sozialhilfeträgers abgewiesen. Die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht zurückgewiesen. Im sich anschließenden Revisionsverfahren ist das Urteil des LSG aufgehoben und die Sache wegen fehlender tatsächlicher Feststellungen zur Rente zurückverwiesen worden (B 14 AS 7/17 R, Urteil vom 7. Dezember 2017). Das LSG hat im wiedereröffneten Verfahren die Berufung zurückgewiesen und die Revision zugelassen. Die Klägerin sei nach § 7 Abs 4 SGB II von SGB II-Leistungen ausgeschlossen, weil sie eine russische Altersarbeitsrente bezogen habe, die mit einer deutschen Altersrente vergleichbar sei. Sie werde durch einen öffentlichen Träger gewährt, knüpfe an das Erreichen einer bestimmten Altersgrenze an und habe nach den Vorstellungen des russischen Gesetzgebers die Funktion, den Lebensunterhalt im Alter zu sichern. Das Vertrauen der Klägerin in die Leistungsbewilligung sei nicht schutzwürdig, weil sie die dafür wesentliche Angabe des laufenden Rentenbezugs - trotz bestehender Sprach- und Verständnisprobleme - grob fahrlässig unterlassen habe. Die Rücknahme und Erstattung sei nicht wegen der Erfüllungsfiktion des § 107 Abs 1 SGB X ausgeschlossen. Dem allein in Betracht kommenden Erstattungsanspruch des Beklagten gegen den Beigeladenen nach § 105 Abs 1 SGB X stehe jedenfalls § 105 Abs 3 SGB X entgegen, wonach ein Erstattungsanspruch gegen den Sozialhilfeträger erst ab Kenntnis seiner Leistungspflicht bestehe. Dass ein Leistungsantrag nach dem SGB II zugleich auch als Antrag auf Leistungen nach dem SGB XII zu verstehen sei und dem Sozialhilfeträger die erforderliche Kenntnis iS des § 18 SGB XII verschaffe, sei nicht auf den Erstattungsfall zu übertragen.
Mit ihrer Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts.
Vorinstanzen:
Sozialgericht Dessau-Roßlau - S 7 AS 1933/10, 02.12.2013
Landessozialgericht Sachsen-Anhalt - L 4 AS 173/18 ZVW, 26.11.2020
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Terminbericht
Die Revision der Klägerin ist ohne Erfolg geblieben. Der Beklagte hat zu Recht die Bewilligungen von Alg II für Januar 2005 bis Oktober 2009 zurückgenommen und insgesamt 42 155,88 Euro erstattet verlangt.
Die Bewilligung von Alg II war von Anfang an rechtswidrig erfolgt. Denn die Klägerin war wegen des Bezugs einer russischen Altersarbeitsrente nach § 7 Abs 4 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Die ihr gewährte Rente ist nach den den Senat bindenden tatsächlichen Feststellungen des LSG zum ausländischen Recht einer deutschen Altersrente vergleichbar. Die nur geringe Rentenhöhe hindert nicht die Annahme einer Vergleichbarkeit mit einer deutschen Altersrente. Bei der erforderlichen rechtsvergleichenden Betrachtung kommt es nicht auf die konkrete Rentenhöhe, sondern auf die Übereinstimmung abstrakter, das jeweilige System kennzeichnender Kriterien an. Ist nach diesen Maßstäben von einer Vergleichbarkeit der von der Klägerin bezogenen Rente mit einer Altersrente aus dem deutschen Rentenversicherungssystem auszugehen, greift auch die dem Leistungsausschluss des § 7 Abs 4 SGB II zugrundeliegende typisierende Annahme eines Abschlusses des Erwerbslebens und daran normativ anknüpfend grundsätzlich die Zuordnung der Klägerin zum existenzsichernden System des SGB XII.
Schutzwürdiges Vertrauen der Klägerin stand der Aufhebung der Leistungsbewilligungen nicht entgegen. Diese beruhten nach den revisionsgerichtlich nur eingeschränkt überprüfbaren Feststellungen des LSG auf Angaben, die die Klägerin grob fahrlässig unrichtig bzw unvollständig gemacht hat. Durchgreifende Revisionsrügen sind insoweit nicht erhoben worden. Die Klägerin hat in keinem der Anträge auf Bewilligung von Alg II den Bezug der Altersrente angegeben. Schlechte deutsche Sprachkenntnisse hindern den Vorwurf der groben Fahrlässigkeit ebenso wenig wie die Angabe einer Rente in der Devisenerklärung bei der Einreise in die Bundesrepublik im Jahr 2004.
Schließlich steht der Rücknahme der Bewilligungsbescheide und der Erstattung auf Grundlage des § 50 SGB X auch nicht die Erfüllungsfiktion des § 107 Abs 1 SGB X entgegen. Danach gilt der Anspruch des Berechtigten gegen den zur Leistung verpflichteten Leistungsträger als erfüllt, soweit ein Erstattungsanspruch besteht. Träte die Erfüllungsfiktion ein, würde sie der Klägerin einen Rechtsgrund für das Behaltendürfen des Alg II verleihen und damit die Rücknahme der Leistungsbewilligung durch das Jobcenter und den Erstattungsanspruch insoweit ausschließen. Dem hier allein denkbaren Erstattungsanspruch des Jobcenters gegen den beigeladenen Sozialhilfeträger nach § 105 SGB X (Anspruch des unzuständigen Leistungsträgers) steht allerdings § 105 Abs 3 SGB X entgegen. Danach gilt § 105 Abs 1 SGB X ua gegenüber Trägern der Sozialhilfe nur von dem Zeitpunkt an, von dem ihnen bekannt war, dass die Voraussetzungen für ihre Leistungspflicht vorlagen. An der erforderlichen positiven Kenntnis der Leistungspflicht des Beigeladenen während des streitbefangenen Zeitraums fehlt es aber bereits deshalb, weil die Klägerin auch im Jahr 2004 gegenüber dem Sozialhilfeträger nicht den laufenden Bezug einer (Alters-)Rente angegeben hatte, die für ihre Zuordnung zum System des SGB XII (und nicht des SGB II) maßgeblich war.
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