Verhandlung B 7 AS 9/22 R
Grundsicherung für Arbeitsuchende - Bildung und Teilhabe - Schulausflug - Zirkusprojektwoche - Schulgelände
Verhandlungstermin
08.03.2023 11:30 Uhr
Terminvorschau
L.-S. P. ./. Jobcenter Oberspreewald-Lausitz
Die minderjährige Klägerin begehrt 10 Euro von dem Beklagten, die für die Teilnahme an einer Zirkusprojektwoche der Schule angefallen waren.
Die Projektwoche wurde 2018 für alle Schülerinnen und Schüler der Klassenstufen 1 bis 6 in einem auf dem Schulgelände aufgestellten Zirkuszelt durchgeführt. Die Teilnahmekosten betrugen 10 Euro je Kind. Die bei dem Beklagten beantragte Kostenübernahme lehnte dieser ab. Er begründete dies damit, dass es sich nicht um Aufwendungen für einen Schulausflug oder eine mehrtägige Klassenfahrt im Sinne des § 28 Absatz 2 SGB II handele. Denn die Zirkusprojektwoche sei eine schulische Veranstaltung, die auf dem Schulgelände stattfinde.
Mit ihrer Klage auf Kostenerstattung ist die Klägerin vor dem Sozialgericht erfolgreich gewesen. Das Landessozialgericht hat auf die Berufung des Beklagten das Urteil des Sozialgerichts aufgehoben und einen Kostenerstattungsanspruch verneint. Zur Begründung hat es sich im Wesentlichen auf den Wortlaut des § 28 Absatz 2 SGB II gestützt. Hieraus folge, auch vor dem Hintergrund der Entstehungsgeschichte sowie dem Sinn und Zweck der Regelung, dass keine tatsächlichen Aufwendungen anzuerkennen seien, die in der Schule anfielen. Dies gelte auch, soweit § 28 Absatz 7 SGB II als Anspruchsgrundlage in Betracht gezogen werde.
Mit ihrer Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 28 Absatz 2 SGB II. Sie beruft sich im Wesentlichen auf das Ziel der Regelung, eine Gleichbehandlung aller Schülerinnen und Schüler unabhängig von ihrer wirtschaftlichen Situation zu gewährleisten. Wäre die Projektwoche zudem in einem außerhalb des Schulgeländes aufgebauten Zelt durchgeführt worden, wäre das Merkmal des Schulausflugs erfüllt gewesen.
Verfahrensgang:
Sozialgericht Cottbus, S 31 AS 1129/18, 28.11.2019
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, L 3 AS 39/20, 05.04.2022
Sämtliche Vorschauen zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 6/23.
Terminbericht
Die Revision der Klägerin war erfolgreich. Sie hat Anspruch auf die Erstattung von 10 Euro für die Teilnahme an einer von der Schule organisierten Zirkusprojektwoche nach §§ 30 in Verbindung mit 28 Absatz 2 SGB II.
Die Voraussetzungen des geltend gemachten Erstattungsanspruchs sind gegeben. Es liegt ein Fall der berechtigten Selbsthilfe im Sinne des § 30 Absatz 1 SGB II vor. Die begehrte Leistung ist rechtzeitig beantragt worden, der Beklagte hat ihre Gewährung abgelehnt und die Klägerin ist in Vorleistung getreten. Es handelt sich auch um einen Bedarf im Sinne des § 28 Absatz 2 SGB II auf dessen Deckung ein Rechtsanspruch besteht.
Nach § 28 Absatz 2 Satz 1 Nummer 1 SGB II werden bei Schülerinnen und Schülern die tatsächlichen Aufwendungen für Schulausflüge anerkannt. Der Begriff der "Schulausflüge" ist grundsicherungsrechtlich nicht definiert. Anders als bei den "mehrtägigen Klassenfahrten" im Sinne des § 28 Absatz 2 Satz 1 Nummer 2 SGB II ist im Hinblick auf die Schulausflüge auch keine ausdrückliche Bezugnahme auf landesschulrechtliche Bestimmungen vorgesehen. Nach dem allgemeinen Sprachverständnis handelt es sich bei einem Schulausflug um eine schulische Veranstaltung, die mit dem Verlassen des Schulgeländes verbunden ist. Im schulischen Kontext kann dies mit dem "Lernen an einem anderen Ort" umschrieben werden. Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht gegeben, denn die Zirkusprojektwoche, für die die Bildungs- und Teilhabeleistung begehrt wird, ist auf dem Schulgelände durchgeführt worden.
Eine solche nach dem Wortlaut vorgegebene Begrenzung der Leistungserbringung verkürzt jedoch den Leistungsanspruch planwidrig. Entstehungsgeschichte sowie Sinn und Zweck der Vorschrift zeigen, dass zentrales Anliegen des § 28 Absatz 2 bis 6 SGB II ist, eine gleichberechtigte Teilhabe von Kindern und Jugendlichen an Bildung zu bewirken - gerade in der Schule. Es soll Kindern und Jugendlichen mit Hilfe der Leistungen ermöglicht werden, typische, die schulischen Bedarfe ergänzende Bedarfe decken zu können. Denn bei diesen Bedarfen handelt es sich um solche, die Teil deren grundsicherungsrechtlichen Existenzminimums sind. Bei der Gewährleistung dessen macht es jedoch keinen Unterschied, ob die Veranstaltung für die eine Leistung nach § 28 Absatz 2 SGB II begehrt wird, außerhalb des Schulgeländes oder auf diesem stattfindet, wenn sie als dem "Lernen an einem anderen Ort" vergleichbar zu bewerten ist. Es muss sich daher um eine von der Schule organisierte und verantwortete Veranstaltung handeln, die der sozialen Teilhabe der Schulkinder im Klassen- oder Schulverband dient (schulische Gemeinschaftsveranstaltung) und die gleichermaßen außerhalb des Schulgeländes als Schulausflug stattfinden könnte. Diese Kriterien werden von der hier zu betrachtenden Zirkusprojektwoche erfüllt.
Ein solcher Bedarf ist auch systematisch allein durch Leistungen nach § 28 Absatz 2 SGB II zu decken. § 28 Absatz 7 SGB II erfasst keine schulischen Bedarfe. Ebenso scheidet ein Anspruch aus § 21 Absatz 6 SGB II aus, denn zumindest handelt es sich - wie zum Zeitpunkt der Entstehung des Bedarfs noch vorausgesetzt - nicht um einen laufenden Bedarf. Auf den Regelbedarf ist die Klägerin nicht zu verweisen. Bildungsbedarfe im schulischen Kontext, die von § 28 SGB II erfasst werden, sind zur Sicherung des Existenzminimums von Kindern und Jugendlichen gesondert neben dem Regelbedarf zu erbringen.
Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 6/23.