Bundessozialgericht

Verhandlung B 9 SB 1/22 R

Schwerbehindertenrecht - Merkzeichen aG - außergewöhnliche Gehbehinderung

Verhandlungstermin 09.03.2023 13:30 Uhr

Terminvorschau

K. S. ./. Landkreis Zwickau
Die Beteiligten streiten über die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens aG (außergewöhnliche Gehbehinderung).

Der 1972 geborene Kläger leidet an einer fortschreitenden Muskelschwunderkrankung (Muskeldystrophie Typ Becker-Kiener) und einer Herzmuskelschwäche, die mit einem Defibrillator und Herzschrittmacher versorgt ist. 2017 beantragte er die Feststellung eines höheren als des bisher festgestellten Grads der Behinderung (GdB) von 60 und die Feststellung der Voraussetzungen für das Merkzeichen aG. Daraufhin stellte der Beklagte den GdB mit 80 und den Fortbestand der bereits zuvor festgestellten Voraussetzungen des Merkzeichens G (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) fest. Dabei bewertete er die Muskeldystrophie mit einem Einzel-GdB von 60 und die Herzerkrankung mit einem Einzel-GdB von 50. Die Feststellung der Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens aG lehnte er ab. Der hinsichtlich des Merkzeichens aG eingelegte Widerspruch des Klägers wurde zurückgewiesen.

Die Klage hat das Sozialgericht nach Befragung der behandelnden Ärzte und Einholung eines Gutachtens abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht den Beklagten verpflichtet, zugunsten des Klägers ab 12. Februar 2020 die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen aG festzustellen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Voraussetzungen für das Merkzeichen aG seien ab dem Tag einer weiteren Begutachtung des Klägers im Berufungsverfahren festzustellen. Bei dem Kläger liege eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung vor, die einem GdB von mindestens 80 entspreche. Eine freie Gehfähigkeit im maßgeblichen normalen, mit Unebenheiten versehenen Lebensumfeld ohne Selbstverletzungsgefahr bestehe nicht mehr. Die Fähigkeit, im idealen Umfeld eines Krankenhausflures zu gehen, sei insoweit unschädlich. Die progrediente Muskelschwunderkrankung sei beim Kläger mit mittelgradigen Auswirkungen verbunden, die wegen der fehlenden Möglichkeit, die Arme zur Gleichgewichtskoordination oder zum Gebrauch einer Gehhilfe oder eines Rollators zu nutzen, mit einem Einzel-GdB von 80 zu bewerten seien.

Mit seiner Revision rügt der Beklagte eine Verletzung von § 229 Absatz 3 SGB IX, Teil B Nummer 18.6 der Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung (Versorgungsmedizinische Grundsätze <VMG>), § 128 Absatz 1 Satz 1 SGG und § 103 SGG. Für die Erheblichkeit der mobilitätsbezogenen Teilhabebeeinträchtigung sei eine freie Gehfähigkeit ohne Selbstverletzungsgefahr nicht der Maßstab. Auch ein Vergleich der Muskelkrankheit mit orthopädischen Leiden sei nach § 229 Absatz 3 SGB IX nicht angezeigt. Zudem verkenne das Landessozialgericht die Anforderungen an das Merkmal der dauernden Beeinträchtigung. Es habe zu Unrecht auf ein von ihm definiertes "normales Lebensumfeld" anstelle einer Teilhabebeeinträchtigung in allen Lebenslagen abgestellt. Hinsichtlich der Höhe des GdB habe es sich nicht mit dem Gesamtergebnis des Verfahrens auseinandergesetzt und die Grenzen der freien Beweiswürdigung überschritten, indem es die in den VMG festgelegten Kriterien außer Acht gelassen habe.

Verfahrensgang:
Sächsisches Landessozialgericht, L 9 SB 99/19, 29.01.2021
Sozialgericht Chemnitz, S 32 SB 333/18, 25.06.2019

Die Vorschau zu dem Verhandlungstermin des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 8/23.

Terminbericht

Gegenstand der beiden verhandelten Verfahren waren die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens aG (außergewöhnliche Gehbehinderung), das unter anderem zur Nutzung von sogenannten "Behindertenparkplätzen" berechtigt. Voraussetzung für die Zuerkennung des Merkzeichens ist eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung, die einem Grad der Behinderung von mindestens 80 entspricht. Eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung liegt gemäß § 229 Absatz 3 Satz 2 SGB IX vor, wenn sich die schwerbehinderten Menschen wegen der Schwere ihrer Beeinträchtigung dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können.

Der Senat hat entschieden, dass für die Prüfung einer mobilitätsbezogenen Teilhabebeeinträchtigung in räumlicher Hinsicht die Gehfähigkeit im öffentlichen Verkehrsraum maßgeblich ist. Dies folgt aus dem Wortlaut des § 229 Absatz 3 Satz 2 SGB IX, der Regelungsgeschichte und dem Zweck des Merkzeichens aG, der vor allem darin besteht, mittels der gewährten Parkerleichterungen die stark eingeschränkte Gehfähigkeit durch Verkürzung der neben der Kraftfahrzeugbenutzung unausweichlichen Wegstrecke auszugleichen. Schließlich erfordern es auch die mit dem SGB IX verfolgten Ziele, dem Gehvermögen auf dem Weg zu Schule, Arbeitsstätte oder Arzt, beim Einkaufen und generell beim Besuch von Einrichtungen des sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens, besonderes Gewicht zuzumessen. Denn gerade das Aufsuchen solcher Einrichtungen fördert eine volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe von behinderten Menschen am Leben in der Gesellschaft.

Die Revision des Beklagten führte zur Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückverweisung der Sache an das Landessozialgericht. Der Senat konnte auf Grundlage der Tatsachenfeststellungen des Landessozialgerichts nicht abschließend entscheiden, ob dieses zu Recht den Anspruch des Klägers auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens aG bejaht hat.

Zwar besteht nach den Feststellungen des Berufungsgerichts beim Kläger eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung, weil er nicht mehr in der Lage ist, ohne Selbstverletzungsgefahr in einem Umfeld mit Bordsteinkanten, abfallenden oder ansteigenden Wegen und Bodenunebenheiten zu gehen. Die Gehfähigkeit lässt sich auch nicht durch Hilfsmittel wie Unterarmgehstützen oder einen Rollator verbessern. Denn der Kläger ist zu deren Nutzung nicht in der Lage. In einem solchen Umfeld ist er jedenfalls im Sinne des § 229 Absatz 3 Satz 2 SGB IX dauernd auf fremde Hilfe angewiesen. Die hiergegen gerichtete Sachaufklärungsrüge des Beklagten greift nicht durch.

Nicht abschließend entscheiden kann der Senat, ob die mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung des Klägers - wie vom Berufungsgericht angenommen - einem Grad der Behinderung von 80 entspricht. Dies aber fordert § 229 Absatz 3 Satz 1 SGB IX als zweite Voraussetzung für die Zuerkennung des Merkzeichens aG. Zwar werden die allgemeinen Regelungen zur Bestimmung des Grades der Behinderung durch diese Regelung dahingehend modifiziert, dass anstelle des Gesamt-Grades der Behinderung der Grad der Behinderung nur in Bezug auf die mobilitätsbezogenen Teilhabebeeinträchtigungen zu ermitteln ist. Dabei sind alle Beeinträchtigungen zu berücksichtigen, die sich nachteilig auf die Gehfähigkeit auswirken. Das Berufungsgericht hat sich bei der Bewertung der die Gehfähigkeit des Klägers beeinträchtigenden Muskelschwunderkrankung zwar zutreffend an Teil B Nummer 18.6 der Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung (Versorgungsmedizinische Grundsätze) orientiert. Es hat aber zu den dort für die Feststellung einer Muskelschwäche mit mittelgradigen Auswirkungen genannten Voraussetzungen keine ausreichenden Feststellungen getroffen. Dies wäre jedoch erforderlich gewesen, um die Beeinträchtigungen des Klägers unter den genannten Tatbestand der Versorgungsmedizinischen Grundsätze zu subsumieren.

Die Berichte zu dem Verhandlungstermin des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 8/23.

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