Verhandlung B 9 SB 8/21 R
Schwerbehindertenrecht - Merkzeichen aG - außergewöhnliche Gehbehinderung
Verhandlungstermin
09.03.2023 14:45 Uhr
Terminvorschau
M. E. ./. Land Baden-Württemberg
Auch hier streiten die Beteiligten über die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens aG.
Der 2009 geborene Kläger leidet an einem angeborenen Gendefekt mit globaler Entwicklungsstörung. Diese äußert sich unter anderem in einer Störung der Körpermotorik und des Verhaltens sowie einer mittelschweren Intelligenzminderung. Frei gehen kann der Kläger nur in vertrauten Situationen in der Schule oder im häuslichen Bereich, nicht jedoch in unbekannter Umgebung. Dort benötigt er beim Gehen wegen seiner psychischen Beeinträchtigung die Hilfe einer ihm bekannten Begleitperson, auf deren Unterarm er sich abstützen oder mit deren Hilfe er im Rollstuhl oder Reha-Buggy transportiert werden muss.
Der Beklagte hat bei ihm zuletzt einen GdB von 80 festgestellt und ihm die Merkzeichen G (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr), B (Berechtigung zur Mitnahme einer Begleitperson) und H (Hilflosigkeit) zuerkannt, das Merkzeichen aG aber abgelehnt.
Auf die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht nach medizinischer Beweiserhebung den Beklagten verpflichtet, zugunsten des Klägers ab 11. Dezember 2018 - dem Tag seiner Begutachtung im Klageverfahren - die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen aG festzustellen. Das Landessozialgericht hat die dagegen gerichtete Berufung des Beklagten zurückgewiesen. Die Parkvergünstigung durch dieses Merkzeichen sei gerade auf eine fremde Umgebung ausgerichtet. Sie solle dem behinderten Menschen die Erledigung alltäglicher Angelegenheiten erleichtern und damit seine Integration in die Gesellschaft fördern. Die geistige Behinderung des Klägers behindere seine Mobilität wesentlich. Behinderungsbedingt könne er sein motorisches Potenzial nur in vertrauter Umgebung und Situation ausschöpfen.
Mit seiner Revision rügt der Beklagte eine Verletzung von § 229 Absatz 3 SGB IX. Der Kläger sei nicht entsprechend den gesetzlichen Vorgaben dauerhaft beeinträchtigt, weil er in vertrauter Umgebung gehen könne. Das Landessozialgericht habe den Beurteilungsmaßstab zu Unrecht zugunsten des Klägers auf dessen Gehfähigkeit in einer fremden Umgebung reduziert. Das Gesetz bezwecke keine partielle Parkerleichterung für besondere einzelne Alltagssituationen, sondern eine umfassende Integration in allen Lebenslagen. Der Lebensalltag des Klägers werde maßgeblich von Wegen in bekannter Umgebung geprägt. Ein Bedürfnis für Parkerleichterungen müsse gerade in diesen Alltagssituationen bestehen. Dies habe das Landessozialgericht aber nicht festgestellt.
Verfahrensgang:
Sozialgericht Ulm, S 9 SB 2624/17, 21.10.2019
Landessozialgericht Baden-Württemberg, L 6 SB 3843/19, 18.03.2021
Die Vorschau zu dem Verhandlungstermin des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 8/23.
Terminbericht
Gegenstand der beiden verhandelten Verfahren waren die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens aG (außergewöhnliche Gehbehinderung), das unter anderem zur Nutzung von sogenannten "Behindertenparkplätzen" berechtigt. Voraussetzung für die Zuerkennung des Merkzeichens ist eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung, die einem Grad der Behinderung von mindestens 80 entspricht. Eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung liegt gemäß § 229 Absatz 3 Satz 2 SGB IX vor, wenn sich die schwerbehinderten Menschen wegen der Schwere ihrer Beeinträchtigung dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können.
Der Senat hat entschieden, dass für die Prüfung einer mobilitätsbezogenen Teilhabebeeinträchtigung in räumlicher Hinsicht die Gehfähigkeit im öffentlichen Verkehrsraum maßgeblich ist. Dies folgt aus dem Wortlaut des § 229 Absatz 3 Satz 2 SGB IX, der Regelungsgeschichte und dem Zweck des Merkzeichens aG, der vor allem darin besteht, mittels der gewährten Parkerleichterungen die stark eingeschränkte Gehfähigkeit durch Verkürzung der neben der Kraftfahrzeugbenutzung unausweichlichen Wegstrecke auszugleichen. Schließlich erfordern es auch die mit dem SGB IX verfolgten Ziele, dem Gehvermögen auf dem Weg zu Schule, Arbeitsstätte oder Arzt, beim Einkaufen und generell beim Besuch von Einrichtungen des sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens, besonderes Gewicht zuzumessen. Denn gerade das Aufsuchen solcher Einrichtungen fördert eine volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe von behinderten Menschen am Leben in der Gesellschaft.
Die Revision des Beklagten war erfolglos. Der Kläger hat Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens aG. Bei ihm besteht eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung infolge seiner psychomotorischen Entwicklungsstörung, die in ihren Auswirkungen einem Grad der Behinderung von 80 entspricht.
Die Gehunfähigkeit des Klägers bezieht sich auf den maßgeblichen öffentlichen (Verkehrs‑)Raum. Dort benötigt er beim Gehen wegen seiner psychischen Beeinträchtigung die Hilfe einer ihm bekannten Begleitperson, auf deren Unterarm er sich abstützen oder von der er im Rollstuhl oder Reha-Buggy transportiert werden muss. Seine Gehfähigkeit in bestimmter vertrauter Umgebung und Situation, im schulischen oder häuslichen Bereich, schließt eine außergewöhnliche Gehbehinderung nicht aus. Der auf volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe von behinderten Menschen am Leben in der Gesellschaft gerichtete Sinn und Zweck des Schwerbehindertenrechts umfasst gerade auch das Aufsuchen veränderlicher und vollkommen unbekannter Einrichtungen des sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens.
In Bezug auf den so definierten räumlichen Bereich besteht die Teilhabebeeinträchtigung des Klägers in zeitlicher Hinsicht auch dauernd. Der Kläger leidet nicht an einer nur vorübergehenden Erkrankung, die seine Gehfähigkeit zeitweise beeinträchtigt. Vielmehr ist er nicht imstande, ohne fremde Hilfe frei zu gehen. Dass er ein größeres motorisches Potenzial wegen seiner geistigen Behinderung nicht abrufen kann, ist unerheblich. Wie die Neufassung der Voraussetzungen für das Merkzeichen aG in § 229 Absatz 3 SGB IX klarstellen sollte, kommt es nicht darauf an, aus welcher Diagnose oder Funktionseinschränkung die mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung resultiert.
Diese erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung entspricht einem Grad der Behinderung von 80. Das folgt aus der zwischen den Beteiligten bindenden Regelung durch den Bescheid vom 4. Juli 2011. Sie berücksichtigt mit der psychomotorischen Entwicklungsstörung ausschließlich eine Funktionseinschränkung, die sich in relevanter Weise nachteilig auf die Gehfähigkeit des Klägers auswirkt.
Die Berichte zu dem Verhandlungstermin des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 8/23.