Bundessozialgericht

Verhandlung B 6 KA 14/22 R

Vertragsarztrecht - vertragsärztliche Versorgung - Abrechnung - Behandlung - vermeintliche Grenzgänger - Sachleistungsaushilfe - Einzelleistungsnachweis

Verhandlungstermin 23.03.2023 12:45 Uhr

Terminvorschau

Kassenärztliche Vereinigung Schleswig-Holstein ./. IKK -  Innovationskasse
Die klagende Kassenärztliche Vereinigung begehrt von der beklagten Krankenkasse einen Ausgleich des von ihr auf der Grundlage der Verordnung (EG) 883/2004 für Sachleistungsaushilfe an Vertragsärzte ausgekehrten Honorars.

Vertragsärzte im Zuständigkeitsbereich der Klägerin behandelten in den Quartalen 1/2009 bis 2/2016 unter anderem sogenannte Grenzgänger, die aufgrund einer Erwerbstätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union (EU) - zumeist Dänemark - Mitglied des dortigen Krankenversicherungssystems waren, aber ihren Wohnsitz in Deutschland behielten und die Beklagte als aushelfende Krankenkasse gewählt hatten. Die Vertragsärzte rechneten ihre Behandlung als Sachleistungsaushilfe im Wege des Einzelleistungsnachweises ab und wurden von der Klägerin entsprechend honoriert. Die Klägerin forderte die Beklagte jeweils nach Ablauf von drei Quartalen zur Erstattung der abgerechneten Einzelleistungen auf. Die Beklagte kam bei Überprüfung des Versicherungsstatus regelmäßig zu dem Ergebnis, dass ein geringer Anteil (6 bis 7 %) tatsächlich keine Grenzgänger, sondern als originäre Mitglieder in der Gesetzlichen Krankenversicherung versichert waren, obgleich sie bei den in Anspruch genommenen Ärzten die Krankenversicherungskarte zur Umsetzung der Verordnung (EG) 883/2004 vorgelegt hatten. Einen Ausgleich für diese Behandlungsfälle lehnte die Beklagte ab.

Das Sozialgericht hat die Beklagte zur Zahlung eines Ausgleichs für diese Behandlungsfälle verurteilt. Eine Haftung der Beklagten ergebe sich aus dem Rechtsschein, den sie dadurch gesetzt habe, dass sie die den Grenzgängerstatus ausweisenden Krankenversicherungskarten nicht eingezogen habe, nachdem eine Pflichtmitgliedschaft der Betroffenen in der Gesetzlichen Krankenversicherung begründet worden sei. Das Landessozialgericht hat auf die Berufung der Beklagten das Urteil des Sozialgerichts aufgehoben und die Klage abgewiesen. Nach Erhalt der Mitteilungen der Beklagten, welche Behandlungsfälle tatsächlich in der Gesetzlichen Krankenversicherung Versicherte betrafen, hätte die Klägerin die vertragsärztlichen Abrechnungen dahingehend sachlich-rechnerisch richtigstellen müssen, dass die Vergütung nicht extrabudgetär sondern aus der morbiditätsbedingten Gesamtvergütung erfolge. Dem stehe nicht entgegen, dass die Beklagte die ihr obliegende Einziehungspflicht aus § 291 Absatz 4 Satz 1 SGB V alte Fassung gegebenenfalls nicht erfüllt habe. Auch die Voraussetzungen einer zugunsten der Klägerin wirkenden Rechtsscheinhaftung oder eines Schadensersatzanspruchs seien nicht erfüllt. 

Die Klägerin rügt mit ihrer Revision eine Verletzung der Artikel 17 bis 20 Verordnung (EG) 883/2004 in Verbindung mit § 3 Anlage 20 zum Bundesmantelvertrag-Ärzte sowie Anhang 1 der Anlage 4a zum Bundesmantelvertrag-Ärzte. Ein Antrag der Beklagten auf sachlich-rechnerische Berichtigung könne nur erfolgreich sein, wenn den Vertragsarzt ein Verschulden treffe, woran es vorliegend mangele. Den Vorschriften des § 3 Absatz 3 Anlage 20 Bundesmantelvertrag-Ärzte, § 6 Absatz 8 der 1. Ergänzung zu Anlage 4 des Bundesmantelvertrag-Ärzte sei der Rechtsgedanke gemein, dass der Vertragsarzt in seinem Vertrauen in die Richtigkeit einer vorgelegten, für ihn nicht erkennbar ungültigen beziehungsweise falschen Versicherungskarte geschützt sei. Es sei zu berücksichtigen, dass die Beklagte ihre Pflicht zur Einziehung der Karten verletzt und dafür auch das Risiko zu tragen habe.

Verfahrensgang:
Sozialgericht Kiel - S 2 KA 73/17, 21.08.2019
Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht - L 4 KA 42/19, 29.03.2022

Sämtliche Vorschauen zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 11/23.

Terminbericht

Die Revision der Klägerin ist ohne Erfolg geblieben. Für die Behandlungsfälle, in denen Versicherte dem behandelnden Vertragsarzt eine Europäische Krankenversicherungskarte vorgelegt haben, tatsächlich aber keine Grenzgänger, sondern originäre Mitglieder der Beklagten waren, hat die Beklagte der Klägerin keine Einzelleistungsvergütung zusätzlich zu der bereits geleisteten Gesamtvergütung zu gewähren.

Der Umstand, dass der behandelnde Vertragsarzt annehmen durfte, dass es sich bei den Patienten um Grenzgänger handelt, begründet keine Zahlungspflicht der Beklagten. Die Krankenkasse ist zwar verpflichtet, die Europäische Krankenversicherungskarte bei Beendigung des Grenzgängerstatus einzuziehen. Ein Verstoß gegen diese gesetzliche Vorgabe hat jedoch keinen Zahlungsanspruch der Klägerin gegenüber der Beklagten zur Folge. Die im hier maßgebenden Zeitraum bestehenden bundesmantelvertraglichen Regelungen erfassen nur solche Fälle, in denen dem behandelnden Arzt eine Krankenversicherungskarte vorgelegt wird, obwohl - anders als hier - tatsächlich kein Versicherungsschutz besteht. Die Krankenkasse hat die Gesamtvergütung nach den Feststellungen des Landessozialgerichts bereits unter Einbeziehung der zunächst fälschlich als Grenzgänger behandelten Versicherten an die Klägerin entrichtet, sodass kein Grund dafür ersichtlich ist, dass die Krankenkasse die Behandlung dieser Versicherten zusätzlich vergüten sollte. Da Fragen der Haftung in Fällen der missbräuchlichen Nutzung von Krankenversicherungskarten zwischen den Beteiligten vertraglich geregelt worden sind, besteht kein Bedürfnis, in Fallkonstellationen wie der vorliegenden, in der kein Haftungstatbestand eingreift, im Wege der Rechtsfortbildung eine Rechtsscheinhaftung anzunehmen. Auch andere Schadensersatzansprüche kommen nicht in Betracht.

Die Berichte zu dem Verhandlungstermin des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 11/23.

Hinweis zur Verwendung von Cookies

Wir verwenden ausschließlich Sitzungs-Cookies, die für die einwandfreie Funktion unserer Webseite erforderlich sind. Mit der Nutzung unserer Dienste erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir diese Cookies einsetzen. Unsere Informationen zum Datenschutz erhalten Sie über den Link Datenschutz.

OK