Bundessozialgericht

Verhandlung B 4 AS 4/22 R

Grundsicherung für Arbeitsuchende - EU-Bürger - Freizügigkeitsrecht - Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche - Aufenthaltsrecht als Familienangehörige - wirtschaftliches Abhängigkeitsverhältnis - Überbrückungsleistungen

Verhandlungstermin 06.06.2023 10:00 Uhr

Terminvorschau

O.B. ./. MainArbeit Kommunales Jobcenter Offenbach, beigeladen: Stadt Offenbach
Die Klägerin ist Staatsangehörige der Republik Lettland und reiste im Oktober 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo ihre Eltern bereits seit dem Jahr 2010 wohnen. Sie verdiente in Lettland zuletzt 360 Euro monatlich und erhielt von den Eltern Geldbeträge in Höhe von durchschnittlich 40 Euro pro Monat.

Einen Leistungsantrag der Klägerin vom 7. März 2016 lehnte der Beklagte ab; die Klägerin sei von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen, da sich ihr Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergebe. Für die Zeit vom 20. April bis zum 31. August 2016 erhielt die Klägerin aufgrund einer einstweiligen Anordnung vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II von dem Beklagten. Am 4. August 2016 stellte sie einen Weiterbewilligungsantrag. Der Beklagte wies den Widerspruch gegen den Ablehnungsbescheid zurück. Es bestehe kein Freizügigkeitsrecht als Familienangehörige der Eltern, da durch die sehr geringen Überweisungen der Eltern nach Lettland dort kein Abhängigkeitsverhältnis bestanden habe. Auch mit dem Antrag vom 4. August 2016 hätten sich keine Änderungen derart ergeben, dass nunmehr Leistungen zu bewilligen wären.

Das Landessozialgericht hat das der Klage stattgebende Urteil des Sozialgerichts aufgehoben, den im Berufungsverfahren beigeladenen Sozialhilfeträger verurteilt, der Klägerin für den Zeitraum vom 1. April 2016 bis 28. Dezember 2016 Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII und für den Zeitraum vom 29. Dezember 2016 bis 28. Januar 2017 Überbrückungsleistungen zu gewähren, und die Klage im Übrigen abgewiesen. Auf den Antrag der Klägerin vom 4. August 2016 sei zwar kein Bescheid ergangen. Doch komme in dem Widerspruchsbescheid vom 6. September 2016 klar zum Ausdruck, dass auch der Antrag vom 4. August 2016 für den Zeitraum ab September 2016 abgelehnt werde, was ausreiche. Die Klägerin sei im streitbefangenen Zeitraum von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen gewesen, denn sie hätte ein Aufenthaltsrecht allenfalls auf den Tatbestand der Arbeitsuche stützen können. Für ein Aufenthaltsrecht nach § 3 Absatz 2 Nummer 2 Freizügigkeitsgesetz/EU alter Fassung als Familienangehörige müsse ein wirtschaftliches Abhängigkeitsverhältnis bereits vor der Einreise nach Deutschland bestanden haben. Daran fehle es. Die Klägerin habe allerdings einen Zahlungsanspruch gegen die Beigeladene auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach § 23 Absatz 1 Satz 3 SGB XII alter Fassung bis zum 28. Dezember 2016. Für den Zeitraum ab 29. Dezember 2016 bis 28. Januar 2017 stehe ihr lediglich ein Anspruch auf Überbrückungsleistungen nach § 23 Absatz 3 Satz 3 SGB XII neuer Fassung gegen die Beigeladene zu.

Hiergegen richtet sich die vom Landessozialgericht zugelassene Revision der Beigeladenen, mit der sie eine Verletzung des § 3 Absatz 2 Nummer 2 Freizügigkeitsgesetz/EU alter Fassung sowie des § 23 Absatz 3 Satz 3 SGB XII neuer Fassung rügt.

Verfahrensgang:
Sozialgericht Darmstadt, S 21 AS 1018/16, 04.12.2019
Hessisches Landessozialgericht, L 6 AS 1/20, 01.12.2021

Sämtliche Vorschauen zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 19/23.

Terminbericht

Der Senat hat das Urteil des Landessozialgerichts aufgehoben, soweit die Beigeladene verurteilt worden ist, der Klägerin ab September 2016 Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII beziehungsweise Überbrückungsleistungen nach § 23 Absatz 3 SGB XII neuer Fassung zu gewähren, und die Klage auch insofern abgewiesen. Im Übrigen hat der Senat die Revision der Beigeladenen zurückgewiesen.

Das Landessozialgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass die Klägerin zwischen dem 1. April 2016 und dem 31. August 2016 von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen war, weil sie allenfalls ein Aufenthaltsrecht zum Zwecke der Arbeitsuche hatte. Ein anderes Aufenthaltsrecht liegt nicht vor. Insbesondere bestand mangels Unterhaltsgewährung kein Aufenthaltsrecht als nachziehende Familienangehörige. Eine Unterhaltsgewährung im Sinne des § 3 Absatz 2 Nummer 2 Freizügigkeitsgesetz/EU alter Fassung setzt voraus, dass ein tatsächliches Abhängigkeitsverhältnis nachgewiesen wird. Eine solche Abhängigkeit liegt nur vor, wenn der Verwandte in Anbetracht seiner wirtschaftlichen und sozialen Lage unter Berücksichtigung der Situation im Herkunfts- oder Heimatland nicht selbst für die Deckung seiner Grundbedürfnisse aufkommt und deshalb einen nicht unwesentlichen Unterhaltsbetrag erhält. Daran fehlt es hier, denn die Mutter der Klägerin wendete dieser im Zeitraum von zwölf Monaten vor der Einreise in das Bundesgebiet lediglich Zahlungen in Höhe von monatlich weniger als 37 Euro zu.

Dass das Landessozialgericht die Beigeladene verurteilt hat, der Klägerin für den Zeitraum vom 1. April 2016 bis zum 31. August 2016 Leistungen nach § 23 Absatz 1 Satz 3 SGB XII alter Fassung zu gewähren, steht in Einklang mit der Rechtsprechung der für die Grundsicherung für Arbeitsuchende zuständigen Senate des Bundessozialgerichts zum außer Kraft getretenen Recht.

Hinsichtlich des Zeitraums vom 1. September 2016 bis zum 28. Januar 2017 ist die Klage mangels vorheriger Verwaltungsentscheidung unzulässig. Zwar lässt § 75 Absatz 5 SGG für seinen Anwendungsbereich die Notwendigkeit entfallen, dass der beigeladene Sozialleistungsträger eine eigene Verwaltungsentscheidung getroffen hat, nicht jedoch, dass überhaupt - nämlich vom Beklagten - eine Verwaltungsentscheidung getroffen worden ist. Ist bereits die Klage unzulässig, scheidet auch eine Verurteilung des Beigeladenen aus.

An dieser Verwaltungsentscheidung fehlt es hinsichtlich des Leistungsantrags der Klägerin vom 4. August 2016, den der Senat dahingehend auslegt, dass er sich auf die Zeit ab dem 1. September 2016 bezieht. Durch diesen Antrag erfährt der vom Verwaltungsverfahren bezüglich des Antrags vom 7. März 2016 betroffene Zeitraum zum 1. September 2016 eine Zäsur, die unabhängig davon eintritt, ob der neue Leistungsantrag bereits beschieden worden ist.

Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 19/23.

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