Bundessozialgericht

Verhandlung B 11 AL 1/22 R

Arbeitsförderung - Anspruch auf Arbeitslosengeld - Anwartschaftszeit - Pflege von Angehörigen - Versicherungspflichtverhältnis - intertemporales Recht - Pflegetätigkeiten vor 1.1.2017

Verhandlungstermin 06.06.2023 14:00 Uhr

Terminvorschau

H.H. ./. Bundesagentur für Arbeit
Der Kläger bezog - nach einer langjährigen versicherungspflichtigen Beschäftigung - bis zum 30. Juni 2009 erstmals Arbeitslosengeld von der Beklagten. Seit 2006 pflegte er seine Mutter, die seit Oktober 2008 Pflegegeld nach der Pflegestufe II und später nach dem Pflegegrad 4 erhielt. Nach dem Tod seiner Mutter am 27. Oktober 2019 meldete sich der Kläger bei der Beklagten arbeitslos und beantragte Arbeitslosengeld. Die Beklagte lehnte den Antrag mangels Erfüllung der Anwartschaftszeit ab. Der Kläger habe zwar innerhalb der Rahmenfrist vom 4. November 2017 bis zum 3. November 2019 seine Mutter gepflegt, jedoch sei er nicht versicherungspflichtig gewesen.

Das Sozialgericht hat die Beklagte zur Zahlung von Arbeitslosengeld ab dem 4. November 2019 verurteilt. Innerhalb der Rahmenfrist habe bis zum Tod der Mutter des Klägers ein Versicherungspflichtverhältnis nach § 26 Absatz 2b SGB III in der ab 1. Januar 2017 geltenden Fassung (neue Fassung) bestanden. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht das Urteil des Sozialgerichts aufgehoben und die Klage abgewiesen. Der Kläger erfülle nicht die Voraussetzungen des § 26 Absatz 2b SGB III neuer Fassung für eine Anbindung an die Arbeitslosenversicherung. Nach den Grundsätzen des intertemporalen Rechts seien nur solche Pflegetätigkeiten für eine Versicherungspflicht nach § 26 Absatz 2b SGB III neuer Fassung berücksichtigungsfähig, die ab dem 1. Januar 2017 unmittelbar an eine Versicherungspflicht der Pflegeperson in der Arbeitslosenversicherung beziehungsweise an eine laufende Entgeltersatzleistung nach dem SGB III angeschlossen hätten. Daran fehle es hier.

Mit seiner vom Landessozialgericht zugelassenen Revision rügt der Kläger die Verletzung von § 26 Absatz 2b SGB III neuer Fassung. Auch Pflegetätigkeiten, die vor dem 1. Januar 2017 aufgenommen worden seien und danach noch andauerten, seien von der Neuregelung erfasst.

Verfahrensgang:
Sozialgericht Köln, S 24 AL 97/20, 13.04.2021
Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, L 20 AL 69/21, 29.11.2021

Sämtliche Vorschauen zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 19/23.

Terminbericht

Der Senat hat auf die Revision des Klägers das Urteil des Landessozialgerichts aufgehoben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts zurückgewiesen. Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Arbeitslosengeld ab dem 4. November 2019.

Der Kläger erfüllte insbesondere die Anwartschaftszeit (§ 142 Absatz 1 Satz 1 SGB III), da er aufgrund der Pflege seiner Mutter in der vom 4. November 2017 bis zum 3. November 2019 verlaufenden Rahmenfrist mehr als zwölf Monate in einem Versicherungspflichtverhältnis nach § 26 Absatz 2b SGB III stand. Er pflegte in dieser Zeit seine Mutter, die Pflegegeld entsprechend ihres Pflegegrads 4 erhielt, in nicht erwerbsmäßiger Weise wenigstens zehn Stunden wöchentlich, verteilt auf mindestens zwei Tage pro Woche, in ihrer häuslichen Umgebung bis zu ihrem Tod am 27. Oktober 2019.

Er war auch unmittelbar vor Beginn der Pflegetätigkeit versicherungspflichtig. § 26 Absatz 2b Satz 1 SGB III stellt nach seinem Wortlaut allein darauf ab, ob “unmittelbar vor Beginn der Pflegetätigkeit“ Versicherungspflicht oder ein Anspruch auf eine Entgeltersatzleistung nach dem SGB III bestand, ohne dies auf Fälle zu begrenzen, in denen die Pflegetätigkeit am oder nach dem 1. Januar 2017 aufgenommen worden ist. Der Wortlaut der Vorschrift fordert auch nicht, dass die Versicherten unmittelbar vor dem Inkrafttreten der Neuregelung am 1. Januar 2017 bereits zu dem durch die Arbeitslosenversicherung geschützten Personenkreis gehört haben müssen. Vielmehr reicht ein Unmittelbarkeitszusammenhang zwischen Versicherungspflicht und einer entsprechenden Pflegetätigkeit aus. Diese Voraussetzung erfüllt der Kläger, da er vor Aufnahme seiner Pflegetätigkeit 2006 durch seine Beschäftigung zum geschützten Personenkreis gehörte. Dem Unmittelbarkeitszusammenhang steht schließlich auch nicht entgegen, dass die Pflege bereits 2006 begann und der Kläger zeitgleich noch bis Juni 2008 arbeitete und bis Juni 2009 Arbeitslosengeld bezog. Die Überschneidung der Pflegetätigkeit mit Beschäftigungszeiten oder Arbeitslosengeldbezug stellt sozusagen die stärkste Form des Unmittelbarkeitszusammenhangs dar. Vorliegend ist aufgrund von Versicherungszeiten, die nach der Rechtsänderung ab 1. Januar 2017 zurückgelegt wurden, ein Leistungsfall eingetreten, der diese Versicherungszeiten zur Anspruchsvoraussetzung hat. Das trägt der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum Versicherungs- beziehungsweise Leistungsfallprinzip vollständig Rechnung.

Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 19/23.

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