Verhandlung B 11 AL 38/21 R
Arbeitsförderung - Anspruch auf Arbeitslosengeld - Rente wegen voller Erwerbsminderung - Überschreiten der Hinzuverdienstgrenze - Anwartschaftszeit - Versicherungspflichtverhältnis
Verhandlungstermin
06.06.2023 13:00 Uhr
Terminvorschau
M.D. ./. Bundesagentur für Arbeit, beigeladen: AOK PLUS - Die Gesundheitskasse für Sachsen und Thüringen
Dem 1980 geborenen Kläger wurde von seinem Rentenversicherungsträger eine Rente wegen voller Erwerbsminderung bewilligt, aber nach Aufnahme einer Vollzeitbeschäftigung wegen Überschreitens der Hinzuverdienstgrenzen nicht mehr geleistet. Das bis zum 2. Juni 2016 befristete Arbeitsverhältnis endete aufgrund gerichtlichen Vergleichs mit Ablauf des 30. September 2016.
Am 10. Februar 2016 meldete sich der Kläger persönlich bei der Beklagten arbeitsuchend und zugleich - mit Wirkung zum 3. Juni 2016 - arbeitslos. Die Beklagte traf zunächst eine "der Höhe und dem Beginn nach" vorläufige Entscheidung über den Anspruch und bewilligte dem Kläger Arbeitslosengeld in Höhe von 18,38 Euro täglich für die Zeit vom 3. Juni 2016 bis 2. Dezember 2016, verlängert wegen der Teilnahme an einer Maßnahme der beruflichen Weiterbildung bis zum 17. Januar 2017. Nachdem die Beklagte im Oktober 2016 festgestellte hatte, dass die frühere Arbeitgeberin des Klägers diesen wegen seines Rentenanspruchs bis 31. März 2016 als versicherungsfrei in der Arbeitslosenversicherung betrachtet hatte, teilte sie dem Kläger mit, ihm stehe kein Arbeitslosengeld-Anspruch zu, weil er die Anwartschaftszeit nicht erfüllt habe. Versicherungspflicht wegen des Bezugs der bewilligten Rente wegen voller Erwerbsminderung sei nicht eingetreten, weil diese Leistung tatsächlich nicht ausgezahlt worden sei.
Widerspruch und Klage sind ohne Erfolg geblieben. Das Landessozialgericht hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger für die Zeit nach dem Ende des Arbeitsverhältnisses vom 1. Oktober 2016 bis 31. Dezember 2016 Arbeitslosengeld zu gewähren. Zwar habe innerhalb der Rahmenfrist kein Versicherungspflichtverhältnis nach § 26 Absatz 2 Nummer 3 SGB III bestanden, da dem Kläger seine Rente wegen voller Erwerbsminderung nicht ausgezahlt worden sei und es damit an einem tatsächlichen Leistungsbezug gefehlt habe. Der Versicherungspflicht des Klägers in seinem Beschäftigungsverhältnis (§ 25 Absatz 1 Satz 1 SGB III) stehe jedoch nicht entgegen, dass ihm für die Zeit bis zum 31. März 2016 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung bewilligt worden sei. Dabei habe es sich um eine Rente auf Zeit gehandelt, während Versicherungsfreiheit nach § 28 Absatz 2 SGB III lediglich bei einer Dauerrente bestehe.
Dagegen wendet sich die Beklagte mit ihrer vom Landessozialgericht zugelassenen Revision.
Verfahrensgang:
Sozialgericht Chemnitz, S 28 AL 80/17, 28.11.2017
Sächsisches Landessozialgericht, L 3 AL 6/18, 16.09.2021
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Terminbericht
Der Senat hat die Revision der Beklagten zurückgewiesen. Das Landessozialgericht hat zu Recht entschieden, dass dem Kläger ein Anspruch auf Arbeitslosengeld für die Zeit vom 1. Oktober 2016 bis 31. Dezember 2016 zusteht.
Dem steht die “verfrühte“ persönliche Arbeitslosmeldung des Klägers nicht entgegen, da sie zusammen mit der frühzeitigen Arbeitsuchendmeldung zeitnah zur im Gesetz enthaltenen Dreimonatsgrenze mit Billigung der zuständigen Agentur für Arbeit erfolgt ist.
Entgegen der Revision hat der Kläger auch die Anwartschaftszeit erfüllt, weil er in der maßgebenden Rahmenfrist durchgehend in einem Versicherungspflichtverhältnis nach dem SGB III gestanden hat. Zwar zählte er nicht zum Kreis der sonstigen Versicherungspflichtigen nach § 26 SGB III. Danach sind Personen unter anderem in der Zeit versicherungspflichtig, für die sie von einem Träger der gesetzlichen Rentenversicherung eine Rente wegen voller Erwerbsminderung beziehen, wenn sie unmittelbar vor Beginn der Leistung versicherungspflichtig waren oder Anspruch auf eine laufende Entgeltersatzleistung nach dem SGB III hatten (§ 26 Absatz 2 Nummer 3 SGB III). An dem dafür erforderlichen tatsächlichen Leistungsbezug fehlte es indes im Fall des Klägers, weil ihm für den relevanten Zeitraum zwar eine Rente wegen voller Erwerbsminderung bewilligt, diese dann jedoch wegen Überschreitens der Hinzuverdienstgrenzen nicht geleistet worden war.
Allerdings stand der Kläger in der Rahmenfrist in einem versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis; er war in Vollzeit gegen Arbeitsentgelt beschäftigt. Entgegen der Ansicht der Beklagten war der Kläger in dieser Beschäftigung auch nicht versicherungsfrei, wie es § 28 Absatz 2 SGB III für Personen bestimmt, soweit ihnen während dieser Zeit ein Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung aus der gesetzlichen Rentenversicherung zuerkannt ist. Zwar verlangt diese Norm - anders als das Landessozialgericht meint - nicht die Zuerkennung einer unbefristeten Rente. Sie greift jedoch nicht ein, wenn die Beschäftigung der einzige Anknüpfungspunkt für einen Versicherungsschutz in der Arbeitslosenversicherung ist. Vielmehr handelt es sich um eine bloße Kollisionsnorm, die den Vorrang einer Versicherung als Bezieher einer Rente wegen voller Erwerbsminderung aus der gesetzlichen Rentenversicherung vor einem Versicherungspflichtverhältnis wegen des Bezugs anderer Sozialleistungen oder wegen einer Beschäftigung anordnet. Dafür bestand im Fall des Klägers mangels einer Versicherungspflicht gemäß § 26 Absatz 2 Nummer 3 SGB III kein Anlass.
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