Verhandlung B 12 R 14/21 R
Versicherungs- und Beitragsrecht - Rentenversicherung - Zahlung freiwilliger Beiträge - Rentenanwartschaft - Härtefallregelung - sozialrechtlicher Herstellungsanspruch
Verhandlungstermin
06.06.2023 10:00 Uhr
Terminvorschau
J. W. ./. Deutsche Rentenversicherung Bund
Der 1960 geborene Kläger ist seit dem 1. März 2002 Mitglied des Versorgungswerks der Steuerberater und seitdem auf seinen Antrag von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung befreit. Auf Nachfrage, ob er durch Zahlung freiwilliger Beiträge den Berufsunfähigkeitsschutz in der gesetzlichen Rentenversicherung aufrechterhalten könne, wurde ihm im Mai 2002 ein Formular zur Beantragung der Zahlung von freiwilligen Beiträgen mit dem Zusatz "zur Aufrechterhaltung des Berufs‑ beziehungsweise Erwerbsunfähigkeitsschutzes" übersandt. Einen entsprechenden Antrag stellte er nicht. Im Oktober 2015 teilte die Beklagte dem Kläger auf weitere Nachfrage mit, eine Nachzahlung freiwilliger Beiträge für seine Hochschulzeit vom 5. Oktober 1982 bis zum 12. April 1988 sei nicht möglich, weil er das 45. Lebensjahr bereits vollendet habe. Seit dem 21. November 2016 ist dem Kläger ein Grad der Behinderung (GdB) von 50 zuerkannt. Die Beklagte entsprach dem im Dezember 2016 gestellten Antrag auf Zahlung freiwilliger Beiträge für die Zeit ab Januar 2016 und erkannte im Februar 2017 eine Anrechnungszeit wegen Hochschulausbildung für die Zeit vom 3. Oktober 1986 bis zum 12. April 1988 an. Damit hat der Kläger für die 35‑jährige Wartezeit 299 Monate (218 Monate Beitragszeiten und 81 Monate Anrechnungszeiten) zurückgelegt
Den Antrag des Klägers vom 8. März 2017, (weitere) freiwillige Mindestbeiträge nachzuzahlen, um eine vorzeitige Altersrente für schwerbehinderte Menschen in Anspruch nehmen zu können, lehnte die Beklagte ab. Auf den Antrag aus Dezember 2016 sei eine freiwillige Versicherung erst ab dem 1. Januar 2016 zulässig. Ein Beratungsmangel liege nicht vor.
Das Sozialgericht hat die auf Zulassung freiwilliger Beitragszahlungen gerichtete Klage abgewiesen. Das Landessozialgericht hat die Berufung zurückgewiesen. Freiwillige Beiträge könnten wirksam nur bis zum 31. März des jeweiligen Folgejahres nachgezahlt werden (§ 197 Absatz 2 SGB VI) und ein Härtefall (§ 197 Absatz 3 SGB VI) liege nicht vor. Die Anwartschaft auf eine Rente wegen Erwerbsminderung (Berufsunfähigkeit) habe der Kläger bereits aufgrund der Befreiung von der Rentenversicherungspflicht verloren. Es drohe daher weder ein Anwartschaftsverlust noch sei ersichtlich, dass der Kläger an der rechtzeitigen Beitragszahlung ohne Verschulden gehindert gewesen sei. Krankheitsbedingte Einschränkungen habe er nur für die Jahre 2014 und 2015 vorgetragen. Mit einer Nachzahlung allein für diese beiden Jahre könne aber die für eine Altersrente für schwerbehinderte Menschen erforderliche 35‑jährige Wartezeit nicht erfüllt werden. Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch sei neben der gesetzlichen Härtefallregelung nicht anwendbar.
Mit der Revision rügt der Kläger sinngemäß eine Verletzung von § 197 Absatz 3 SGB VI und der Grundsätze des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs. Die gesetzliche Härtefallregelung sei im Verhältnis zum sozialrechtlichen Herstellungsanspruch nicht die speziellere Regelung. Der Begriff der Härte umfasse nicht ein Verschulden des Rentenversicherungsträgers und die Vorschrift normiere für ein solches Verschulden auch keine Rechtsfolge. Auch den Gesetzesmaterialien lasse sich ein Ausschluss des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs nicht entnehmen. Insbesondere sei nicht ersichtlich, dass dem Gesetzgeber die entsprechende Rechtsprechung des Bundessozialgerichts bezüglich der für Pflichtbeiträge geltenden Härtefallregelung bekannt gewesen sei. Die Voraussetzungen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs seien erfüllt.
Verfahrensgang:
Sozialgericht Kassel, S 6 R 90/19, 27.10.2020
Hessisches Landessozialgericht, L 5 R 337/20, 04.10.2021
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Terminbericht
Der Senat hat die Revision des Klägers zurückgewiesen. Der Kläger hat keinen Anspruch, für die Zeit vom 1. März 2002 bis zum 31. Dezember 2015 wirksam freiwillige Beiträge nachzuzahlen. Freiwillige Beiträge können grundsätzlich nur bis zum 31. März des Folgejahres, für das sie gelten sollen, wirksam gezahlt werden. Der Kläger hat die Zulassung freiwilliger Beiträge für die Zeit vor dem 1. Januar 2016 erstmals mit Schreiben vom 8. März 2017 und damit außerhalb dieser Frist beantragt. Die Voraussetzungen der Härtefallregelung des § 197 Absatz 3 SGB VI sind nicht gegeben. Die Anwartschaft auf eine Regelaltersrente bleibt unter Berücksichtigung aller gezahlten Beiträge erhalten. Zur Erfüllung der für eine Altersrente für schwerbehinderte Menschen erforderlichen Wartezeit von 35 Jahren fehlten bei Antragstellung noch mehr als 10 Jahre rentenrechtlicher Zeiten. Zwar sind alle Umstände in die Härtefallprüfung einzubeziehen, die Anforderungen an das Vorliegen einer besonderen Härte steigen aber mit dem Umfang der zu überbrückenden Beitragslücke und der Zeitdauer des Ablaufs der Beitragszahlungsfrist. Es ist auch nicht erkennbar, dass der Kläger an der rechtzeitigen Beitragszahlung ohne Verschulden gehindert gewesen wäre. Eine der Beklagten zuzurechnende Pflichtverletzung, die für das Versäumnis des Klägers, freiwillige Beiträge rechtzeitig zu zahlen, ursächlich geworden sein könnte, lag nicht vor. Ohne entsprechendes Beratungsbegehren muss ein Versicherungsträger grundsätzlich nur auf offensichtlich zweckmäßige Gestaltungsmöglichkeiten hinweisen. Die Zahlung freiwilliger Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung war für den Kläger selbst unter Berücksichtigung einer möglicherweise verspäteten Anerkennung einer Hochschulzeit für etwa 1 1/2 Jahre nicht offensichtlich zweckmäßig. Mangels Pflichtverletzung musste der Senat nicht über die Anwendbarkeit des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs entscheiden.
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