Bundessozialgericht

Verhandlung B 3 KR 8/22 R

Krankenversicherung - Versandapotheke - Niederlande - Rahmenvertrag Arzneimittelversorgung - Herstellerrabatt

Verhandlungstermin 14.06.2023 11:30 Uhr

Terminvorschau

M.-P. Vertriebs-GmbH ./. DocMorris N.V.
Im Streit steht die Rückerstattung sogenannter Herstellerabschläge für den Zeitraum von Januar 2010 bis August 2016.

Die Beklagte betreibt eine in den Niederlanden ansässige Versandapotheke, die im streitigen Zeitraum dem Rahmenvertrag über die Arzneimittelversorgung zwischen dem GKV-Spitzenverband und dem Deutschen Apothekerverband eV beigetreten war. In diesem Zeitraum erhielt sie von der Klägerin Erstattungen in Höhe von insgesamt 398 650,23 Euro für Abschläge, die von den Krankenkassen der von ihr versorgten Versicherten bei der Abgabe von Fertigarzneimitteln der Klägerin auf der Grundlage von § 130a SGB V als Rabatt des pharmazeutischen Unternehmers einbehalten worden waren. Nach der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 19. Oktober 2016 im Verfahren Deutsche Parkinson Vereinigung ./. Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs zur deutschen Arzneimittelpreisbindung nimmt die Klägerin die Beklagte auf die Rückerstattung dieser Erstattungen zuzüglich Zinsen in Anspruch, weil Apotheken wie die Beklagte hiernach keiner Bindung an das nationale Arzneimittelpreisrecht unterlägen und deshalb pharmazeutische Unternehmer zu Rabatten nach § 130a SGB V bei der Abgabe von Fertigarzneimitteln über solche Apotheken nicht heranzuziehen gewesen seien.

Das Sozialgericht hat die Klage abgewiesen, das Landessozialgericht hat die Berufung zurückgewiesen: Die Beklagte habe aufgrund ihres Beitritts zum Rahmenvertrag im streitigen Zeitraum am Sachleistungssystem der Arzneimittelversorgung der gesetzlichen Krankenversicherung teilgenommen, weshalb sie den Krankenkassen zur Einräumung von Herstellerabschlägen und die Klägerin zur Erstattung derselben verpflichtet gewesen sei.

Mit ihrer vom Landessozialgericht zugelassenen Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts. Insbesondere habe eine Leistungspflicht der Beklagten zur Einräumung von Herstellerabschlägen nach § 130a SGB V nicht bestanden, weil diese tatbestandlich an die arzneimittelrechtliche Preisbindung nach § 78 AMG in Verbindung mit den Vorschriften der Arzneimittelpreisverordnung anknüpfe. Diese Vorschriften seien nach der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 19. Oktober 2016 im Fall der Beklagten jedoch unanwendbar, da sie gegen die Warenverkehrsfreiheit (Artikel 34 AEUV) verstießen. Eine solche Preisbindung ergebe sich auch nicht aus dem Beitritt der Beklagten zum Rahmenvertrag. Die darin enthaltene Verpflichtung der Beklagten zur Abrechnung von Arzneimittelabgaben auf Basis dieser Vorschriften genüge nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats nicht, weil es sich um eine vertragliche Regelung handele.

Verfahrensgang:
Sozialgericht für das Saarland, S 20 KR 834/16, 14.03.2019
Landessozialgericht für das Saarland, L 2 KR 22/19, 27.04.2022

Sämtliche Vorschauen zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 21/23.

Terminbericht

Die Revision der Klägerin war erfolglos. Pharmazeutische Unternehmer sind bei der Abgabe von Arzneimitteln über eine dem krankenversicherungsrechtlichen Abgabesystem beigetretene ausländische Versandapotheke nicht deshalb von der Verpflichtung zur Entrichtung von Herstellerabschlägen auf ihre Abgabepreise freigestellt, weil Versandapotheken eines anderen Mitgliedstaats der Europäischen Union Endverbrauchern nach einem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union abweichend von der Preisbindung nach deutschem Arzneimittelpreisrecht Rabatte gewähren dürfen; das haben die Vorinstanzen zutreffend ausgeführt und daher mit Recht entschieden, dass der von der Klägerin geltend gemachte Erstattungsanspruch nicht besteht.

Die Abgabe von Arzneimitteln zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung unterliegt seit langem verschiedenen Preisregulierungs- und Anreizsystemen, die mit unterschiedlichen Ansätzen Kostensteigerungen bei der Arzneimittelversorgung der Versicherten entgegenwirken sollen. Dazu zählen neben einem Preisfindungsmechanismus für erstattungsfähige Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen (§§ 35a, 130b SGB V) und einem Instrument, das Versicherte zur Inanspruchnahme möglichst preisgünstiger Arzneimittel anhalten soll (§ 35 SGB V), Vorschriften über Preisabschläge bei der Abgabe apothekenpflichtiger Arzneimittel an gesetzlich Krankenversicherte, die ähnlich teils schon die RVO vorgesehen hatte, und nunmehr parallel zu § 130 SGB V in § 130a SGB V geregelt sind. Diese Vorschrift enthält neben Regularien zu Rabattabsprachen unmittelbar zwischen Krankenkassen oder deren Verbänden und pharmazeutischen Unternehmern in deren Interesse an der Steigerung des Absatzes ihrer Arzneimittel (§ 130a Absatz 8 SGB V) verpflichtende Vorgaben zu unterschiedlichen Rabatten, die bei der Abgabe apothekenpflichtiger Arzneimittel zu gewähren sind. Dafür sieht die Regelung ein gestuftes Verfahren vor, das dem Umstand Rechnung tragen soll, dass die pharmazeutischen Unternehmer an der Abgabe apothekenpflichtiger Arzneimittel nicht unmittelbar beteiligt sind und deshalb regelmäßig keine eigenen Rechtsbeziehungen zu den Krankenkassen als Erbringer der in deren Verhältnis zu den Versicherten zu erbringenden Sachleistungen unterhalten. Im Verhältnis zu den Krankenkassen sind danach die „Rabatte der pharmazeutischen Unternehmer“ von den Apotheken einzuräumen (§ 130a Absatz 1 Satz 1 SGB V), die dafür entsprechende Erstattungen von den pharmazeutischen Unternehmern beanspruchen können (§ 130a Absatz 1 Satz 3 SGB V). Bemessungsgröße des hiernach von den Apotheken zu tragenden und von den pharmazeutischen Unternehmern zu erstattenden Abschlags ist ein prozentualer Anteil des jeweiligen „Abgabepreises des pharmazeutischen Unternehmers ohne Mehrwertsteuer“ (§ 130a Absatz 1 Satz 1 SGB V).

Dieser Abschlagsverpflichtung den Krankenkassen gegenüber unterworfen und im Verhältnis zu den der Sache nach rabattpflichtigen pharmazeutischen Unternehmern entsprechend erstattungsberechtigt ist jede Apotheke, die auf Grundlage des Rahmenvertrags nach § 129 Absatz 2 SGB V zwischen dem GKV-Spitzenverband und der maßgeblichen Spitzenorganisation der Apotheker an der Versorgung gesetzlich Krankenversicherter teilnimmt und sich damit den besonderen gesetzlichen und untergesetzlichen Vorgaben bei der Arzneimittelabgabe zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung einschließlich der Abschlagspflicht nach § 130a Absatz 1 Satz 1 SGB V unterstellt hat. Wie das BSG bereits mehrfach entschieden hat, gilt das auch für Versandapotheken eines anderen Mitgliedstaats der Europäischen Union. Im hier streitbefangenen Zeitraum konnten sie gesetzlich Krankenversicherte vom Kostenerstattungsverfahren nach § 13 Absatz 4 SGB V abgesehen entweder auf der Grundlage von Einzelverträgen mit Krankenkassen nach § 140e SGB V oder kraft Beitritts nach § 129 Absatz 3 Satz 1 Nummer 2 SGB V zum Rahmenvertrag versorgen (im Einzelnen BSG vom 17.12.2009 - B 3 KR 14/08 R - SozR 4-2500 § 130a Nr 5 RdNr 19). Hierdurch erwirbt eine Apotheke die Rechtsstellung, die ihr einerseits auf gesetzlicher Grundlage Vergütungsansprüche gegen die Krankenkassen vermittelt und sie andererseits durch die Rabattpflichten unter anderem nach § 130a SGB V hoheitlich belastet beziehungsweise in Dienst nimmt und ihr infolgedessen entsprechende Erstattungsansprüche gegen den jeweiligen pharmazeutischen Unternehmer vermittelt; daran hält der Senat fest.

Dass eine Versandapotheke eines anderen Mitgliedstaats der Europäischen Union Kunden nach dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 19.10.2016 im Verfahren Deutsche Parkinson Vereinigung ./. Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs (C-148/15) Rabatte einräumen darf, an deren Gewährung inländische Apotheken durch die Arzneimittelpreisbindung gehindert sind, ändert hieran nichts. Die Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union betraf die Frage, ob die Festsetzung einheitlicher Apothekenabgabepreise eine Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Einfuhrbeschränkung im Sinne von Artikel 34 AEUV darstellt und ob bejahendenfalls ausreichende Feststellungen zu deren Rechtfertigung nach Maßgabe von Artikel 36 AEUV vorlagen. Soweit sich der bei der Abgabe apothekenpflichtiger Arzneimittel vom pharmazeutischen Unternehmer den Krankenkassen zu gewährende Rabatt nach dem (von ihm) bestimmten einheitlichen Abgabepreis ohne Mehrwertsteuer bemisst, betrifft das dagegen die Vergütung der pharmazeutischen Unternehmer durch die Krankenkassen für die Versorgung ihrer Versicherten im Rahmen des Sachleistungsprinzips nach nationalem Krankenversicherungsrecht (§ 2 Absatz 2 Satz 1 Halbsatz 1 SGB V) und damit Maßnahmen der Kostendämpfung in der gesetzlichen Krankenversicherung. Diese preisregulierende Funktion zu Lasten pharmazeutischer Unternehmer verliert die Rabattregelung des § 130a SGB V nicht dann, wenn in Fallkonstellationen wie hier eine Versandapotheke eines anderen Mitgliedstaats der Europäischen Union an dem Abgabevorgang beteiligt ist und aufgrund des Beitritts zum Rahmenvertrag nach § 129 Absatz 2 SGB V in das gesetzlich konstituierte Regime der Arzneimittelversorgung nach dem SGB V eingebunden ist. Wie das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden hat, ist die Rabattregelung sowohl im Hinblick auf die pharmazeutischen Unternehmer als auch in Bezug auf die Einbindung der Apotheken in die Abwicklung von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden (BVerfG vom 13.9.2005 - 2 BvF 2/03 - BVerfGE 114, 196, juris RdNr 232 f). Dass Versandapotheken eines anderen Mitgliedstaats der Europäischen Union durch den Beitritt zum Rahmenvertrag nach § 129 Absatz 2 SGB V im Verhältnis zu Krankenkassen, Versicherten und pharmazeutischen Unternehmern die Rechtsstellung wie inländische Apotheken erlangen können, kann deshalb rechtlich geschützte Interessen eines pharmazeutischen Unternehmers nicht berühren. Fragen des Unionsrechts betrifft das ebenfalls nicht, weil solche Versandapotheken jedenfalls im Streitzeitraum hier Vorteile aufgrund der fehlenden Erstreckung der nationalen deutschen Arzneimittelpreisbindung auf sie durch Gestaltungen ohne Beitritt zum Rahmenvertrag nach § 129 Absatz 2 SGB V nutzen konnten (vergleiche BVerfG <Kammer> vom 24.3.2016 - 2 BvR 1546/13 - juris RdNr 22); ob die Einführung von § 129 Absatz 3 Satz 2 und 3 SGB V durch das Gesetz zur Stärkung der Vor-Ort-Apotheken vom 9.12.2020 (BGBl I 2870) daran etwas geändert hat, braucht hier nicht entschieden zu werden.

Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 21/23.

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