Verhandlung B 3 KR 10/21 R
Krankenversicherung - Hilfsmittelverzeichnis - Drainageprodukt - Prozessführungsbefugnis
Verhandlungstermin
14.06.2023 10:00 Uhr
Terminvorschau
p. m. t. gmbh ./. GKV-Spitzenverband
Im Streit steht die Aufnahme von Drainageprodukten in das Hilfsmittelverzeichnis der gesetzlichen Krankenversicherung.
Die Klägerin vertreibt Drainageflaschen zur Ableitung von Flüssigkeit unter anderem bei rezidivierenden und malignen Pleuraergüssen, die Patienten nach Implantation eines entsprechenden Katheters in der Selbstanwendung zur Ableitung von Pleuraflüssigkeit in der eigenen Wohnumgebung nutzen können und eine ansonsten nötige stationäre Versorgung entbehrlich machen sollen. Hergestellt wurden und werden diese von weiteren Unternehmen des Unternehmensverbunds, dem die Klägerin angehört. 2012 beantragte sie als Vertriebsgesellschaft beim beklagten GKV-Spitzenverband für den damaligen Hersteller die Aufnahme der Drainageflasche in das Hilfsmittelverzeichnis der gesetzlichen Krankenversicherung in einem Set (AseptTM Drainagekit), das die Drainageflasche selbst und ein Schlauchset für den Einmalgebrauch sowie die weiteren zur Drainage notwendigen sterilen Verbrauchsmaterialien, wie Handschuhe, Desinfektionstücher und Verbandsmaterialien enthalten soll und in einer Einheit mit einer 600 Milliliter Flasche und einer weiteren mit zwei 600 Milliliter Flaschen aufgenommen werden sollte; die Kombination mit zwei Flaschen bietet die Klägerin zwischenzeitlich nicht mehr an. Der Beklagte lehnte die Anträge ab, weil die Klägerin den medizinischen Nutzen der angemeldeten neuartigen Produkte einschließlich ihrer Anwendbarkeit durch Laien in der häuslichen Umgebung nicht ausreichend belegt habe.
Das Sozialgericht hat die Klage abgewiesen, weil die Klägerin nicht Hersteller der Drainagekits sei. Die Berufung hiergegen hat das Landessozialgericht zurückgewiesen, da die Klage unzulässig sei. Da die Voraussetzungen einer gewillkürten Prozessstandschaft nicht vorlägen, sei die Klägerin nicht prozessführungsbefugt. Unabhängig hiervon wäre die Klage auch unbegründet, weil den Drainagekits für sich die Hilfsmitteleigenschaft fehle. Ohne den zu implantierenden Drainagekatheter seien sie wertlos; sie bildeten mit diesem eine funktionale Einheit, sodass nur das gesamte System als Hilfsmittel angesehen werden könne.
Mit der vom Landessozialgericht zugelassenen Revision rügt die Klägerin die Verletzung von Verfahrens- und materiellem Recht. Sie ist insbesondere der Auffassung, hinreichend ermächtigt zu sein, das Verfahren im eigenen Namen für den Hersteller zu betreiben. Als Vertriebsgesellschaft habe sie hieran ein berechtigtes Interesse. Schutzwürdige Interessen des Beklagten stünden dem nicht entgegen. Soweit das Landessozialgericht die Berufung hilfsweise als unbegründet angesehen habe, komme es nicht darauf an, ob es sich bei den Drainagekits um Zubehör handele, da auch dieses als Hilfsmittel eintragungsfähig sei.
Verfahrensgang:
Sozialgericht Berlin, S 210 KR 1791/13, 15.12.2017
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, L 14 KR 48/18, 29.04.2021
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Terminbericht
Die Revision der Klägerin war - nachdem das auf das Drainagekit mit zwei Flaschen bezogene Begehren nicht weiter verfolgt worden ist - im Sinne der Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückverweisung der Sache an das Landessozialgericht zur erneuten Verhandlung und Entscheidung begründet. Zu Unrecht hat das Landessozialgericht über das Klagebegehren durch Prozess- statt durch Sachurteil entschieden. Da ein Erfolg der Klage zumindest nicht vollständig ausgeschlossen ist, war das auch nicht unbeachtlich, weshalb es für eine abschließende Entscheidung weiterer Feststellungen bedarf.
Allerdings hält der Senat nicht an seiner Auffassung fest, dass das Absatzinteresse eines Vertriebsunternehmens ein schutzwürdiges rechtliches Interesse an der Aufnahme eines von ihm vertriebenen Produkts in das Hilfsmittelverzeichnis der gesetzlichen Krankenversicherung begründet (so noch BSG vom 22.4.2009 – B 3 KR 11/07 R – BSGE 103, 66 = SozR 4-2500 § 33 Nr 22, RdNr 16), weshalb für entsprechende Klagen in gewillkürter Prozessstandschaft für den jeweiligen Hersteller grundsätzlich kein Raum mehr ist. Seiner Konzeption nach hat das Hilfsmittelverzeichnis eine ausschließlich objektiv-rechtliche Funktion im Interesse der systematischen Ordnung der zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung abzugebenden Hilfsmittel, ohne dass ihm rechtliche Bindungswirkungen gegenüber Krankenkassen oder Versicherten zukämen. Entsprechend vermittelt es auch Herstellern keinen Vertrauensschutz, der nur unter Einhaltung der allgemeinen Maßgaben der §§ 45 und 48 SGB X zu durchbrechen wäre. Deren Anspruch auf eine den gesetzlichen Vorgaben genügende Fortschreibung des Hilfsmittelverzeichnisses leitet sich vielmehr von dem durch Artikel 12 Absatz 1 GG in Verbindung mit Artikel 3 Absatz 1 GG gewährleisteten Recht zur Teilnahme am Wettbewerb ab, das verletzt ist, soweit ein Hilfsmittel ohne sachlichen Grund von der Aufnahme in das oder vom Verbleib in dem Hilfsmittelverzeichnis ausgenommen wird.
Eine vergleichbare Schutzposition kommt Vertriebsunternehmen bezüglich der Aufnahme von ihnen (nur) vertriebener Hilfsmittel in das Hilfsmittelverzeichnis weder von Verfassungs wegen noch kraft einfachrechtlicher Gestaltung des Aufnahmeverfahrens zu. Diese beschränkt die Antragsbefugnis vielmehr ausdrücklich auf den Hersteller (§ 139 Absatz 3 Satz 1 SGB V), ohne dass dies verfassungsrechtlich gewährleistete Teilhaberechte von Vertriebsunternehmen am Wettbewerb verletzt oder ohne hinreichenden Grund die Möglichkeiten insbesondere nicht in Deutschland selbst ansässiger Hersteller zur Durchsetzung ihrer Rechte im Hilfsmittelverzeichnisaufnahmeverfahren begrenzt. Nach seiner Anlage ist das Aufnahmeverfahren wesentlich auf die Beteiligung des Herstellers und die Beibringung maßgeblicher Unterlagen durch ihn ausgerichtet; kommt er dem nicht nach, hat der GKV-Spitzenverband das nicht durch (eigene) Ermittlungen von Amts wegen auszugleichen. Das gilt in besonderer Weise, soweit der Gemeinsame Bundesausschuss auf Anfrage zu dem Ergebnis gekommen ist, dass das Hilfsmittel untrennbarer Bestandteil einer neuen Untersuchungs- oder Behandlungsmethode ist (§ 139 Absatz 3 Satz 5 SGB V). Kann das Aufnahmeverfahren mithin ohne Beteiligung des Herstellers ohnehin nicht sachgerecht geführt werden, ist es deshalb rechtlich nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber die Verfahrensverantwortung explizit auf ihn beschränkt und für Vertriebsunternehmen keine entsprechenden Befugnisse vorgesehen hat. Soweit Hersteller bei der Führung gerichtlicher Verfahren um die Aufnahme eines Produkts in das Hilfsmittelverzeichnis deshalb auf anwaltliche Vertretung angewiesen sind, ist das hiernach durch ausreichende Gründe gerechtfertigt, zumal sie bei in gewillkürter Prozessstandschaft erhobenen Klagen von Vertriebsunternehmen wegen der notwendigen Einheitlichkeit der Entscheidung nach § 75 Absatz 2 Alternative 1 SGG ohnehin zwingend an den Verfahren zu beteiligen wären.
Ungeachtet dessen ist die Klägerin im Hinblick auf die frühere Rechtsauffassung des Senats aus Vertrauensschutzgründen hier noch als befugt anzusehen (ebenso wie Vertriebsunternehmen in vergleichbarer Lage), in gewillkürter Prozessstandschaft für den Hersteller die Aufnahme des streitbefangenen Produkts in das Hilfsmittelverzeichnis geltend zu machen, soweit dieses Gegenstand des dem Rechtsstreit zu Grunde liegenden Ausgangsverfahrens war. Diesbezüglich war dem Gesamtzusammenhang nach im Hinblick auf die Rechtsprechung des Senats zur Antragsbefugnis nur von Herstellern bereits bei Einleitung des Verfahrens erkennbar, dass die Klägerin nur für diesen aufgetreten sein konnte. Auch kann weiter offen bleiben, ob eine gewillkürte Prozessstandschaft im sozialgerichtlichen Verfahren auch bei Klagen gegen oder auf Erteilung behördlicher Verwaltungsakte zulässig ist, weil hier wie dargelegt nicht die Verleihung individueller Rechtspositionen im Streit steht, sondern die objektiv-rechtliche Funktion des Hilfsmittelverzeichnisses mit seinen nur mittelbaren - wenn auch nach Auffassung der Klägerin wettbewerbsverzerrenden - Auswirkungen auf die Absatzchancen des Herstellers des streitbefangenen Produkts bei der Versorgung gesetzlich Krankenversicherter.
War deshalb hier nicht durch Prozessurteil zu entscheiden, ist das Urteil des Landessozialgerichts schließlich nicht deshalb zu bestätigen, weil ein Obsiegen der Klägerin aus Rechtsgründen als vollständig ausgeschlossen erscheinen muss; so liegt es nicht. Insbesondere scheidet eine Aufnahme des streitbefangenen Produkts in das Hilfsmittelverzeichnis nicht deshalb aus, weil es für sich allein genommen - also ohne den Katheter - zum Erfolg der Krankenbehandlung nichts beitragen kann. Seiner Steuerungsfunktion nach ist in das Hilfsmittelverzeichnis jedes Medizinprodukt aufzunehmen, dessen Abgabe an gesetzlich Krankenversicherte nach Maßgabe von § 33 Absatz 1 SGB V in Betracht kommt und dessen Eignung hierzu einschließlich etwaiger Abgabevoraussetzungen deshalb den Zwecken des Hilfsmittelverzeichnisses entsprechend in einem strukturierten Verfahren nach Maßgabe der Anforderungen des § 139 SGB V möglichst vorab zu prüfen ist. Ob und inwiefern das allgemein der Aufnahme solcher Gegenstände in das Hilfsmittelverzeichnis entgegensteht, die nur im Zusammenwirken mit anderen Teilen zur Verwirklichung oder Förderung eines der maßgeblichen Versorgungsziele beitragen können, muss hier nicht entschieden werden. Denn jedenfalls die hier zur Prüfung gestellten Drainageflaschen können nur für sich abgegeben werden und verlieren mithin nicht deshalb die Eigenschaft als - möglicherweise - in das Hilfsmittelverzeichnis aufzunehmende Hilfsmittel, weil sie ohne den zuvor einzusetzenden Katheter nutzlos sind.
Daraus folgt indes noch nicht, dass das zur Prüfung gestellte Drainagekit - wie beantragt - zur Anwendung in der eigenen Häuslichkeit und seiner Gesamtzusammensetzung nach in das Hilfsmittelverzeichnis aufzunehmen ist. Dazu bedarf es zur abschließenden Entscheidung vielmehr näherer Feststellungen, gegebenenfalls auch zur Notwendigkeit einer Beteiligung des Gemeinsamen Bundesausschusses nach Maßgabe von § 139 Absatz 3 Satz 3 bis 5 SGB V, die das Landessozialgericht auf der Grundlage seiner Rechtsauffassung nicht zu treffen brauchte.
Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 21/23.