Bundessozialgericht

Verhandlung B 1 KR 35/21 R

Krankenversicherung - lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankung - Duchenne-Muskeldystrophie - Arzneimittelversorgung - Translarna

Verhandlungstermin 29.06.2023 15:00 Uhr

Terminvorschau

D. G. ./. AOK Rheinland-Pfalz/Saarland
Streitig ist die Versorgung mit dem Arzneimittel Translarna (Ataluren).

Der 2004 geborene, bei der beklagten Krankenkasse versicherte Kläger leidet an einer Duchenne-Muskeldystrophie infolge Nonsense-Mutation des Dystrophin-Gens. Hierbei handelt es sich um eine genetisch bedingte, fortschreitende und typischerweise im frühen Erwachsenenalter tödliche Erkrankung. Der Kläger ist seit 2015 nicht mehr gehfähig. Am 4. Juli 2019 beantragte er die Kostenübernahme für das Arzneimittel Translarna. Dieses ist in der Europäischen Union für die Behandlung der Duchenne-Muskeldystrophie infolge einer Nonsense-Mutation im Dystrophin-Gen bei gehfähigen Patienten im Alter ab zwei Jahren zugelassen. Die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) lehnte jedoch im Juni 2019 und nochmals im Oktober 2019 einen Antrag des Herstellers auf Erweiterung der Indikation auf Patienten ab, die nicht mehr gehfähig sind. Das Sozialgericht hat die Klage auf Versorgung mit Translarna abgewiesen. Das Landessozialgericht hat die Beklagte verurteilt, den Kläger mit Translarna zu versorgen Der Anspruch ergebe sich aus § 2 Absatz 1a SGB V. Die Versorgung des nicht mehr gehfähigen Klägers mit Translarna verspreche eine auf Indizien gestützte, nicht ganz fernliegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Verlauf der Erkrankung. Die Erweiterung der Indikation sei aufgrund einer nicht aussagekräftigen Datenlage abgelehnt worden, nicht wegen eines negativen Nutzen-Risiko-Verhältnisses. Die weitere wissenschaftliche Erforschung der Wirksamkeit von Translarna habe seither neue Hinweise auf eine positive Wirkung erbracht. Die Ablehnung der Indikationserweiterung entfalte daher keine Sperrwirkung.

Mit ihrer Revision rügt die Beklagte die Verletzung des § 2 Absatz 1a SGB V.

Verfahrensgang:
Sozialgericht Mainz, S 16 KR 173/20, 19.11.2020
Landessozialgericht Rheinland-Pfalz, L 5 KR 211/20, 04.02.2021

Die Vorschau zu dem Verhandlungstermin des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 26/23.

Terminbericht

Die Revision der beklagten Krankenkasse hatte Erfolg.

Der Senat hat die stattgebende Landessozialgerichts-Entscheidung aufgehoben und die Klage abgewiesen. Der nicht mehr gehfähige Kläger hat - auch nach § 2 Absatz 1a SGB V - keinen Anspruch auf Versorgung mit dem Arzneimittel Translarna. Zwar leidet er an einer regelmäßig tödlichen Erkrankung, der Duchenne-Muskeldystrophie infolge Nonsense-Mutation des Dystrophin-Gens. Es fehlt jedoch an der hinreichenden Aussicht auf Heilung oder eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf. An dieser Voraussetzung fehlt es, wenn das Arzneimittel für die betreffende Indikation nicht zugelassen ist und Anträge des Herstellers auf Erweiterung der Zulassung auf diese Indikation aufgrund inhaltlicher Bewertung durch die zuständige Arzneimittelbehörde keinen Erfolg hatten. So liegt der Fall hier. Translarna erhielt auf Grundlage der negativen Bewertung des Nutzens des Arzneimittels durch den Ausschuss für Humanarzneimittel (CHMP) der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) für nicht mehr gehfähige Patienten keine Zulassung. Der Senat hält an seiner Rechtsprechung fest, nach der eine solche negativen Bewertung des Arzneimittels im Zulassungsverfahren eine Sperrwirkung für Ansprüche nach § 2 Absatz 1a SGB V entfaltet. Er verkennt dabei nicht, dass die Prüfmaßstäbe für einen Anspruch nach § 2 Absatz 1a SGB V und im Arzneimittelzulassungsverfahren nicht vollständig deckungsgleich sind. Es gibt indes gewichtige Gründe, an der Sperrwirkung festzuhalten. Hierfür spricht zunächst, dass durch § 2 Absatz 1a SGB V nach der Begründung des Gesetzentwurfs ausdrücklich keine über die in der Tomudex-Entscheidung des erkennenden Senats entwickelten Grundsätze hinausgehenden Leistungen eingeführt werden sollten (vergleiche Bundessozialgericht vom 4.4.2006 - B 1 KR 7/05 R - BSGE 96, 170 = SozR 4-2500 § 31 Nummer 4). Zu diesen Grundsätzen gehört die Sperrwirkung ablehnender arzneimittelrechtlicher Entscheidungen. Das Arzneimittelrecht trägt dem sich aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 GG ergebenden staatlichen Schutzauftrag Rechnung, indem es Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit der Arzneimittel gewährleistet. Das dauerhafte Unterlaufen der arzneimittelrechtlichen Vorschriften kann daher ‑ gerade auch bei schwerwiegenden Erkrankungen - zu Gefahren für Leben und körperliche Unversehrtheit führen. Dagegen bieten die Institutionalisierung des Zulassungsverfahrens und die hohe fachliche Expertise der Arzneimittelbehörden eine besonders hohe Gewähr für Wissenschaftlichkeit und Unabhängigkeit der Prüfung. Ebenso wie die gesetzliche Krankenversicherung bei neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden sieht auch das Arzneimittelrecht ein eigenes strukturiertes Qualitätssicherungssystem vor. Außerdem erlaubt es erleichterte Zulassungen und in Härtefällen auch Ausnahmeentscheidungen. Die Sperrwirkung kann überwunden werden, wenn im Nachgang zu der negativen arzneimittelrechtlichen Bewertung neue wissenschaftliche Erkenntnisse gewonnen werden, die zumindest die Voraussetzungen einer vereinfachten, gegebenenfalls bedingten Zulassung erfüllen.

Die Berichte zu dem Verhandlungstermin des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 26/23.

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