Bundessozialgericht

Verhandlung B 12 KR 8/21 R

Versicherungs- und Beitragsrecht - Viehvermarktung - Betriebsprüfung - Versicherungspflicht - Bescheide gegenüber Unternehmer und vermeintlich Beschäftigten - Parallelverfahren - doppelte Rechtshängigkeit - Streitgegenstand

Verhandlungstermin 20.07.2023 10:00 Uhr

Terminvorschau

T. S. ./. Deutsche Rentenversicherung Nord, beigeladen: 1. H.-J. B., 2. Bundesagentur für Arbeit
Der im Verfahren 1) klagende und im Verfahren 2) zu 1. beigeladene Unternehmer betreibt eine Viehvermarktung, die unter anderem den Ankauf von Ferkeln in Dänemark und deren Weiterveräußerung in Deutschland sowie die Vermarktung von schlachtreifen Schweinen und deren Transport in verschiedene Schlachthöfe zum Gegenstand hat. Neben fest angestellten Beschäftigten waren der Beigeladene zu 1. des Verfahrens 1) und der Kläger des Verfahrens 2) wiederholt für ihn tätig. Die Tätigkeiten bestanden im Wesentlichen darin, Ferkel in Dänemark zu selektieren und nach Deutschland zu transportieren sowie Schweine vom Schweinemastbetrieb zum verarbeitenden Betrieb zu verbringen.

Nach einer Betriebsprüfung stellte die beklagte Deutsche Rentenversicherung Nord jeweils durch einen Bescheid die Versicherungspflicht des Beigeladenen zu 1. im Verfahren 1) sowie des Klägers im Verfahren 2) aufgrund Beschäftigung gegenüber dem Unternehmer fest. Den Bescheid übersandte sie zeitgleich auch den vermeintlich Beschäftigten. Das an sie jeweils gerichtete Begleitschreiben enthielt eine Rechtsmittelbelehrung. Sowohl der Unternehmer als auch die vermeintlich Beschäftigten erhoben getrennt Widersprüche und - wiederum getrennt - Klagen zu demselben Sozialgericht. Das Sozialgericht hat die Klagen des Unternehmers und des jeweils betroffenen vermeintlich Beschäftigten nicht zu einem gemeinsamen Verfahren verbunden und den jeweils nicht klagenden Betroffenen zum jeweiligen Parallelverfahren beigeladen.

In den von den hier jeweils zu 1. Beigeladenen parallel geführten Klageverfahren hat das Sozialgericht die Klagen im April 2017 als unbegründet abgewiesen. Keiner der Beteiligten hat dagegen Rechtsmittel eingelegt. Die den beiden Revisionsverfahren zugrunde liegenden Klagen sind jeweils im Februar 2018 als unbegründet abgewiesen worden, weil zu Recht Versicherungspflicht aufgrund Beschäftigung festgestellt worden sei. Das Landessozialgericht hat die Berufungen zurückgewiesen. Die jeweils verbliebene Klage sei zwar nicht wegen doppelter Rechtshängigkeit unzulässig. Einer Entscheidung, erst Recht einer inhaltlich abweichenden Entscheidung, stehe allerdings die Rechtskraft des im jeweiligen Parallelverfahren mit einem identischen Streitgegenstand ergangenen Urteils entgegen. In den Parallelverfahren seien die Kläger als Beigeladene beteiligt gewesen. Vorsorglich werde darauf hingewiesen, dass zu Recht Versicherungspflicht aufgrund abhängiger Beschäftigung festgestellt worden sei.

Hiergegen wenden sich die Kläger mit ihren Revisionen. Sie rügen eine Verletzung ihres Anspruchs auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes aus Artikel 19 Absatz 4 GG. Eine vollständige Identität der Streitgegenstände der jeweiligen Klage- und Parallelverfahren sei mangels Identität der Beteiligten in ihrer Stellung im Prozess nicht gegeben. Daher sei auch von unterschiedlichen Lebenssachverhalten auszugehen. Dies zeige sich auch darin, dass die Beklagte jeweils zwei selbstständige Bescheide - sowohl gegenüber dem Unternehmer als auch gegenüber den vermeintlich Beschäftigten - bekannt gegeben habe. Schließlich sei zu Unrecht eine abhängige Beschäftigung bejaht worden.

Verfahrensgang:
Sozialgericht Schleswig, S 11 KR 310/14, 26.02.2018
Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, L 10 BA 44/18, 27.07.2021

Sämtliche Vorschauen zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 29/23.

Terminbericht

Der Senat hat die Revisionen der Kläger in den Verfahren B 12 KR 8/21 R und B 12 BA 1/22 R zurückgewiesen.

Das Landessozialgericht hat im Ergebnis zu Recht angenommen, dass die vorliegenden Klagen nicht wegen doppelter Rechtshängigkeit unzulässig waren. Denn die mit den Parallelverfahren betriebenen Klagen waren im Zeitpunkt der den hier angefochtenen Berufungsurteilen jeweils zugrunde liegenden mündlichen Verhandlung bereits formell rechtskräftig abgeschlossen. Damit kann offen bleiben, ob auch die Rechtsschutzgarantie des Artikel 19 Absatz 4 GG im Hinblick auf die besondere prozessuale Stellung von Beigeladenen die Unzulässigkeit wegen doppelter Rechtshängigkeit ausschließt.

Einer Entscheidung in den vorliegenden Verfahren steht allerdings die materielle Rechtskraft der in den Parallelverfahren ergangenen Urteile entgegen. Nach § 141 Absatz 1 Nummer 1 SGG binden rechtskräftige Urteile, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist, die Beteiligten und ihre Rechtsnachfolger. Die Kläger der vorliegenden Verfahren waren in den jeweiligen Parallelverfahren beigeladen und damit Beteiligte des Verfahrens. Die Streitgegenstände der vorliegenden Klage- und der früheren Parallelverfahren waren jeweils identisch. Gegenstand war und ist jeweils nur ein die Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) und nach dem Recht der Arbeitsförderung feststellender, durch jeweiligen Bescheid verkörperter Verwaltungsakt, dessen Aufhebung von den betroffenen Personen einheitlich verfolgt wurde. Diese Verwaltungsakte waren zwar lediglich an den Unternehmer gerichtet, haben wegen der festgestellten Versicherungspflicht der vermeintlich Beschäftigten aber auch diesen gegenüber rechtliche Wirkung im Sinne einer Drittwirkung entfaltet und sind gegenüber den Klägern und den Beigeladenen bekannt gemacht worden. Es liegen auch keine unterschiedlichen "Bescheide" im Sinne mehrerer Verwaltungsakte vor. Mit dem an die vermeintlich Beschäftigten jeweils gerichteten bloßen Schreiben hat die Beklagte schon nicht den äußeren Anschein eines Verwaltungsakts erweckt; sie hat ausdrücklich jeweils nur eine Mehrausfertigung des an den Unternehmer gerichteten Feststellungsbescheids übersandt.

Die Rechtskraftwirkung wird durch die Garantie effektiven Rechtsschutzes nach Artikel 19 Absatz 4 GG nicht ausgeschlossen, sondern gestützt: Ist ein Rechtsstreit rechtskräftig entschieden, ist eine erneute Entscheidung in einem neuerlichen Rechtsstreit über denselben Streitgegenstand grundsätzlich ausgeschlossen. Dies gilt auch dann, wenn derselbe Streitgegenstand von den Verfahrensbeteiligten erneut zur Prüfung gestellt wird, die zuvor in einer anderen Prozessrolle an dem früheren Verfahren beteiligt waren. Denn die materielle Rechtskraft hat gegenüber allen Verfahrensbeteiligten eine rechtsstaatliche Funktion. Sie dient einerseits dem Rechtsfrieden und andererseits der Rechtssicherheit. Ohne die materielle Rechtskraft und den mit ihr verbundenen Anspruch auf die Endgültigkeit der Streitbeilegung würde der effektive Rechtsschutz gerade nicht garantiert. Ungeachtet dessen ist zu berücksichtigen, dass die materielle Rechtskraft den Eintritt der formellen Rechtskraft, also eine unanfechtbare Entscheidung voraussetzt. Die formelle und damit auch die materielle Rechtskraft hätten die Kläger aber durch das zulässige Rechtsmittel der Berufung in den vorangegangenen Parallelverfahren vermeiden können.

Die Berichte zu dem Verhandlungstermin des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 29/23.

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