Verhandlung B 1 KR 26/22 R
Krankenversicherung - Arzneimittelversorgung - Cannabis - begründete Einschätzung des Vertragsarztes - Ermittlungspflicht des Gerichts
Verhandlungstermin
29.08.2023 15:15 Uhr
Terminvorschau
A. S. ./. AOK NORDWEST
Die bei der beklagten Krankenkasse versicherte Klägerin beantragte Kostenübernahme für die Versorgung mit Cannabis. Im Arztfragebogen gab der behandelnde Allgemeinmediziner an, die Klägerin leide unter einem chronischen Schmerzsyndrom bei Fibromyalgie und Lupus erythematodes. Behandlungsziel sei eine Schmerzlinderung. Gleichzeitig bestehe Epilepsie. Auf die Frage, welche Therapie mit welchem Erfolg bisher durchgeführt worden sei, führte der Hausarzt aus: "medik. Ther + Physiother nicht ausreichend erfolgreich". Die Patientin sei austherapiert. Die Beklagte lehnte den Antrag nach Einholung eines Gutachtens des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung ab. Widerspruch, Klage und Berufung der Klägerin hatten keinen Erfolg. Das Landessozialgericht hat zur Begründung ausgeführt, zur Behandlung der Fibromyalgie der Klägerin stehe mit der multimodalen, interdisziplinären, komplexen Schmerztherapie eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung zur Verfügung. Es liege keine den Anforderungen des § 31 Abatzs 6 Satz 1 Nummer 1 Buchstabe b SGB V entsprechend begründete Einschätzung eines Vertragsarztes vor. Die begründete Einschätzung des Vertragsarztes könne im Gerichtsverfahren nicht mehr nachgeholt werden, denn nach dem Wortlaut der Norm müsse sie bis zur Entscheidung der Krankenkasse vorliegen. Das Gericht sei daher daran gehindert, durch eine Beweisaufnahme zu klären, ob die Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes zutreffe.
Mit ihrer Revision rügt die Klägerin einen Verstoß gegen § 31 Absatz 6 SGB V und § 103 SGG.
Verfahrensgang:
Sozialgericht Hamburg, S 46 KR 3366/19, 27.12.2021
Landessozialgericht Hamburg, L 1 KR 18/22, 31.08.2022
Die Vorschau zu dem Verhandlungstermin des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 32/23.
Terminbericht
Die Revision der Klägerin hatte keinen Erfolg. Der Anspruch der Klägerin auf Genehmigung der Versorgung mit Cannabis scheitert jedenfalls daran, dass sie keine begründete Einschätzung ihres behandelnden Vertragsarztes vorgelegt hat. Nach den nicht mit durchgreifenden Rügen angegriffenen, den Senat bindenden Feststellungen des Landessozialgerichts steht eine Standardtherapie zur Behandlung der Schmerzerkrankung und zur Erreichung des angestrebten Behandlungsziels der Schmerzlinderung zur Verfügung. In solchen Fällen bedarf es der begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes, warum diese Methoden unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes dennoch nicht zur Anwendung kommen können. Das Gesetz gesteht dem behandelnden Vertragsarzt insoweit eine Einschätzungsprärogative zu. An die begründete Einschätzung sind aber - wie der Senat bereits entschieden hat - hohe Anforderungen zu stellen. Sie muss die mit Cannabis zu behandelnde Erkrankung und das Behandlungsziel benennen, die für die Abwägung der Anwendbarkeit verfügbarer Standardtherapien mit der Anwendung von Cannabis erforderlichen Tatsachen vollständig darlegen und eine Abwägung unter Einschluss möglicher schädlicher Wirkungen von Cannabis beinhalten. An einer diesen Anforderungen genügenden begründeten Einschätzung fehlt es vorliegend.
Die Berichte zu dem Verhandlungstermin des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 32/23.