Verhandlung B 3 P 4/22 R
Pflegeversicherung - Entlastungsbetrag - haushaltsnahe Dienstleistungen - landesrechtliche Anerkennung
Verhandlungstermin
30.08.2023 13:00 Uhr
Terminvorschau
H. U. O. ./. Landeskrankenhilfe V.V. a.G.
Im Streit steht die Zahlung eines Entlastungsbetrags für die Inanspruchnahme haushaltsnaher Dienstleistungen entsprechend § 45b SGB XI.
Der privat pflegeversicherte Kläger ist seit März 2017 pflegebedürftig nach dem Pflegegrad 1. Mit Schreiben vom 6.12.2017 teilte der Beklagte dem Kläger auf Anfrage wegen „einer privaten Pflegeperson für Betreuungsleistungen“ mit, obwohl ihm keine landesrechtliche Regelung für die Anerkennung „einer privaten Pflegeperson hinsichtlich Betreuungsleistungen vorliegt“, werde er „entgegenkommend eine private Pflegeperson anerkennen, sofern diese einen Kurs für pflegende Angehörige absolviert hat.“ Erbringe die private Pflegeperson Entlastungsleistungen, sei dafür eine Anerkennung als Nachbarschaftshelfer nicht möglich, es sei denn, die landesrechtliche Verordnung regele etwas anderes. Gleichzeitig bot er eine Schulung für die Pflegeperson an, welche mit der Haushaltshilfe des Klägers durchgeführt worden ist. Die Erstattung von deren Kosten lehnte er hingegen ab, weil es sich in Ermangelung landesrechtlicher Regelungen nicht um anerkannte Angebote handele.
Das Sozialgericht hat die Klage abgewiesen und das Landessozialgericht die Berufung zurückgewiesen. Den erbrachten Leistungen fehle die notwendige Anerkennung nach Landesrecht. Zudem seien sie auch nicht anerkennungsfähig, weil die Haushaltshilfe nicht über die notwendige Qualifikation verfüge. Eine Zusicherung habe der Beklagte nicht erteilt.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung von Verfahrensrecht und materiellem Recht. Entgegen der Auffassung des Landessozialgerichts habe der Beklagte seine Beratungspflicht verletzt, weshalb er Leistungen nicht habe in Anspruch nehmen können.
Verfahrensgang:
Sozialgericht Marburg, S 4 P 14/18, 14.02.2020
Hessisches Landessozialgericht, L 6 P 10/20, 12.11.2021
Die Vorschau zu dem Verhandlungstermin des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 31/23.
Terminbericht
Die Revision des Klägers war im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung der Sache an das Landessozialgericht begründet. Ob der Kläger vom Beklagten einen Entlastungsbetrag für haushaltsnahe Dienstleistungen ungeachtet der fehlenden landesrechtlichen Anerkennung des zugrunde liegenden Angebots beanspruchen kann, vermag der Senat nicht abschließend zu beurteilen. Nach dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen des Landessozialgerichts hat der Beklagte den Kläger über die insoweit maßgeblichen landesrechtlichen Voraussetzungen nur unzureichend informiert und könnte ihn deshalb so zu stellen haben, als sei der Haushaltshilfe die erforderliche Anerkennung von Beginn an erteilt worden. Dazu sowie zur Auslegung der Leistungszusage des Beklagten in diesem Zusammenhang bedarf es weiterer Feststellungen, die der Senat nicht selbst treffen kann.
In der Ausprägung der allgemeinen Vorgaben zu Aufklärung und Beratung nach den §§ 13 und 14 SGB I durch das SGB XI haben Pflegeversicherte Anspruch auf umfassende Information durch ihre Pflegekassen zum einen über die bei Pflegebedürftigkeit beanspruchbaren Leistungen nach dem SGB XI und die Hilfen anderer Träger und zum anderen über ihren Anspruch auf individuelle Pflegeberatung und Hilfestellung zur Realisierung der ihnen im Einzelfall zustehenden Leistungsansprüche durch dazu berufene Pflegeberaterinnen oder Pflegeberater nach näherer Maßgabe der §§ 7a bis 7c SGB XI. Darauf bezogen sollen die Pflegekassen vor der erstmaligen Pflegeberatung schnell und unbürokratisch („unverzüglich“) die dafür im Einzelfall jeweils in Betracht kommenden Personen oder Stellen benennen. Ebenso hat die zuständige Pflegekasse der antragstellenden Person auf deren Anforderung neben weiteren Informationen unverzüglich und in geeigneter Form eine Übersicht unter anderem über die in ihrem Einzugsbereich verfügbaren Angebote zur Unterstützung im Alltag nach § 45a SGB XI zu übermitteln, was bedingt, dass die Versicherten auch über dieses Angebot im Rahmen der Erstinformation nach § 7 Absatz 2 Satz 1 SGB XI von den Pflegekassen zu informieren sind.
Das gilt für die private Pflegeversicherung nicht anders. Schon nach dem Gleichwertigkeitsgebot des § 23 Absatz 1 Satz 2 SGB XI darf die Unterstützung privat Pflegeversicherter bei der Realisierung der ihnen zustehenden Leistungen und Hilfen nicht hinter den entsprechenden Informations-, Beratungs- und Unterstützungsansprüchen im Rahmen der sozialen Pflegeversicherung zurückbleiben; für die Pflegeberatung nach § 7a SGB XI und die Verpflichtung zur Unterbreitung von Beratungsangeboten nach § 7b SGB XI ist das seit längerem auch ausdrücklich angeordnet. Soweit privat Pflegeversicherte nach den Musterbedingungen für die private Pflegepflichtversicherung (MB/PPV) Anspruch haben auf individuelle Beratung und Hilfestellung bei der Auswahl und Inanspruchnahme von Versicherungs- und Sozialleistungen sowie sonstigen Hilfsangeboten, die auf die Unterstützung von Menschen mit Pflege-, Versorgungs- oder Betreuungsbedarf ausgerichtet sind (§ 4 Absatz 18 Satz 1 MB/PPV; hier Stand 2017), ist dies deshalb nach Gegenstand und Ziel nicht anders zu verstehen als es für die soziale Pflegeversicherung gilt; konkretisierend sind deshalb bei der Auslegung insoweit die Vorgaben der §§ 7 bis 7b SGB XI entsprechend heranzuziehen.
Diesen Anforderungen genügten die Auskünfte des Beklagten zu den streitbefangenen Hilfen im Haushalt nach dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen des Landessozialgerichts nicht. Zweifelhaft ist schon, ob der Beklagte den Kläger in der gebotenen Weise auf die ihm im Zusammenhang damit zustehenden Beratungsangebote und die Möglichkeit hingewiesen hat, Übersichten über entsprechende Angebote in seinem Einzugsbereich bei ihm anzufordern. Das kann indes dahinstehen, weil jedenfalls die vom Landessozialgericht festgestellten Auskünfte des Beklagten unzureichend waren. Den Informationsbedarf der Versicherten zu den nach Landesrecht anerkannten Angeboten zur Unterstützung im Alltag im Sinne von § 45a SGB XI erfüllen Pflegekassen und Krankenversicherungsunternehmen nur, wenn grundsätzlich schon ihre Auskünfte in für die Versicherten „verständlicher Weise“ (§ 7 Absatz 2 Satz 1 Halbsatz 1 SGB XI) erkennen lassen, welche Angebote nach dem jeweiligen Landesrecht unter welchen Voraus-setzungen in Anspruch genommen werden können. Jedenfalls bei erkennbaren Bedarfslagen müssen Versicherte dazu unter Beachtung des jeweils maßgebenden Landesrechts leicht verständlich Auskunft darüber erhalten, welche Angebote zur Unterstützung im Alltag sie in ihrem Bundesland unter welchen Voraussetzungen in Anspruch nehmen und demgemäß einen Entlastungsbetrag nach oder entsprechend § 45b Absatz 1 Satz 3 Nummer 4 SGB XI beanspruchen können; andernfalls gingen die zum Teil erheblichen Unterschiede der landesrechtlichen Gestaltung in nicht vertretbarer Weise zu Lasten von Pflegebedürftigen und Angehörigen, die mit diesen Leistungen nach der gesetzlichen Konzeption in leicht zugänglicher Weise unterstützt werden sollen.
Nach Art und Inhalt verfehlt war danach schon die dem Kläger im Dezember 2017 erteilte Auskunft des Beklagten, ein Anspruch auf einen Entlastungsbetrag bei Hilfen zur Haushaltsführung bestehe nicht, „es sei denn, die landesrechtliche Verordnung regelt etwas anderes“ (Schreiben vom 6.12.2017). Abgesehen davon, dass die Ermittlung des maßgeblichen Landesrechts nach dem Vorstehenden Sache der Pflegekassen beziehungsweise Krankenversicherungsunternehmen und nicht der Versicherten ist, war eine der neuen Rechtslage angepasste Rechtsverordnung für die Inanspruchnahme von Entlastungsbeträgen nach § 4 Absatz 16 Satz 1 MB/PPV 2017 in Verbindung mit Tarif PV Nummer 11 Satz 1 lit d) sowie § 45a SGB XI in Hessen zu diesem Zeitpunkt noch nicht in Kraft getreten und deshalb eine Auskunft zum maßgeblichen Landesrecht noch nicht möglich; das änderte sich erst mit Inkrafttreten der Pflegeunterstützungsverordnung (PfluV) vom 25.4.2018 am 9.5.2018. Spätestens auf die vom Beklagten im März und April 2018 beantwortete Vorlage von Belegen über Zahlungen an seine Haushaltshilfe und den damit jedenfalls zu diesem Zeitpunkt (möglicherweise nochmals) offenbar gewordenen diesbezüglichen Beratungsbedarf des Klägers hätte der Beklagte daher zunächst auf die noch offene landesrechtliche Grundlage hinweisen und den Kläger nach Inkrafttreten der PfluV darüber informieren müssen, dass der geltend gemachte Entlastungsbetrag für Unterstützungsleistungen der Haushaltshilfe ungeachtet der Anforderungen im Weiteren jedenfalls einen Antrag auf Anerkennung ihres Angebots nach § 9 PfluV erfordern würde. Dass der Beklagte dem Kläger einen solchen Hinweis nachträglich noch erteilt hätte, ist nach dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen des Landessozialgerichts und dem Vorbringen des Beklagten im gerichtlichen Verfahren auszuschließen.
Erweist sich nach Zurückverweisung, dass die Haushaltshilfe des Klägers unter Beachtung der vom Senat mit Urteil vom heutigen Tag zu 3) entwickelten Maßstäbe als geeignete Anbieterin eines Angebots zur Entlastung im Haushalt im Sinne der PfluV anzusehen war, steht die bislang fehlende Anerkennung nach § 9 PfluV dem Klagebegehren in entsprechender Anwendung der Grundsätze des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs nicht entgegen. Ebenso wie nach dem richterrechtlich entwickelten Herstellungsanspruch im Sozialrechtsverhältnis verstieße es in der privaten Pflegepflichtversicherung gegen den in § 242 BGB verankerten Grundsatz von Treu und Glauben, würde sich der Beklagte im Versicherungsverhältnis zum Kläger auf die Folgen eines Verstoßes gegen ihm zugewiesene Informations-, Beratungs- und Unterstützungspflichten berufen, soweit dieser - was im wiedereröffneten Berufungsverfahren noch zu ermitteln sein wird - rechtlich wesentlich zu der hier maßgeblichen Säumnis beigetragen hat.
Die Berichte zu dem Verhandlungstermin des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 31/23.