Bundessozialgericht

Verhandlung B 6 KA 16/22 R

Vertragsarztrecht - ärztlicher Bereitschaftsdienst - in eigener Praxis ausschließlich privatärztlich tätige Ärzte - Hessisches Heilberufsgesetz - Kostenbeteiligung

Verhandlungstermin 25.10.2023 12:30 Uhr

Terminvorschau

Die Verfahren B 6 KA 16/22 R, B 6 KA 17/22 R und B 6 KA 20/22 R betreffen Rechtsfragen im Zusammenhang mit der im Hessischen Heilberufsgesetz geregelten Verpflichtung von in eigener Praxis tätigen Privatärzten, am ärztlichen Bereitschaftsdienst der beklagten Kassenärztlichen Vereinigung teilzunehmen und sich an dessen Kosten zu beteiligen. Das Hessische Heilberufsgesetz verweist hierzu auf die Berufsordnung der Landesärztekammer, in der das Nähere geregelt wird. Die seit Juni 2019 geltende Berufsordnung verweist wiederum auf die Bereitschaftsdienstordnung der Beklagten in der von der Vertreterversammlung beschlossenen, zuletzt am 27. Dezember 2018 geänderten Fassung, die für die Einrichtung und Durchführung des ärztlichen Bereitschaftsdienstes im Einzelnen maßgeblich ist.

Dr. R. L. ./. Kassenärztliche Vereinigung Hessen
Die Beteiligten streiten über die Verpflichtung zur Kostenbeteiligung am ärztlichen Bereitschaftsdienst.

Der 1947 geborene Kläger ist als niedergelassener Arzt in eigener Praxis ausschließlich noch privatärztlich tätig. Auf seinen Antrag befreite ihn die Beklagte aus Altersgründen von der Teilnahme am ärztlichen Bereitschaftsdienst. Zugleich teilte sie ihm mit, dass unabhängig von dieser Befreiung eine Beteiligung an den Kosten des ärztlichen Bereitschaftsdiensts bestehen bleibe. Der Widerspruch des Klägers war ebenso erfolglos wie die nachfolgende Klage.

Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht den Bescheid der Beklagten sowie den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts aufgehoben. Weder das als Rechtsgrundlage herangezogene Normgeflecht aus Landesrecht und bundesrechtlichem Vertragsarztrecht noch die vertragsarztrechtlichen Rechtssetzungskompetenzen ermächtigten die Beklagte zum Erlass belastender Satzungsregelungen gegenüber Privatärzten. Umfang und Regelungsdichte des Vertragsarztrechts entfalteten eine Sperrwirkung, die keinen Raum für landesrechtliche Regelungen ohne eine bundesrechtliche Öffnungsklausel lasse. Es bestünden Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit der §§ 23, 24 Hessisches Heilberufsgesetz mit Artikel 12 Absatz 1 GG und den aus Artikel 20 Absatz 2 GG folgenden Grenzen zur Ermächtigung von Selbstverwaltungskörperschaften zum Erlass belastender Verwaltungsakte gegenüber Nichtmitgliedern. Der Gesetzesvorbehalt erfordere, dass der Gesetzgeber - zumindest in den Grundzügen - die Voraussetzungen für die Pflichtteilnahme sowie eine Befreiung und die Finanzierung des ärztlichen Bereitschaftsdienstes festlege, daran fehle es. Zudem genüge die landesrechtliche Delegation nicht den gesteigerten Bestimmtheits- und Wesentlichkeitsanforderungen an die Ermächtigung von Selbstverwaltungskörperschaften.

Hiergegen wendet sich die Beklagte mit ihrer Revision und rügt die Verletzung materiellen Bundesrechts sowie Verfahrensrechts. Der Hinweis auf die Kostenbeteiligung des Klägers sei kein belastender Verwaltungsakt. Ungeachtet dessen verletze die Entscheidung §§ 75 Absatz 1b, 81 Absatz 1 Nummer 5 und 10 SGB V. Das Landessozialgericht nehme in fehlerhafter Auslegung der Artikel 20 Absatz 2, 70 Absatz 1 und 74 Absatz 1 Nummer 12 GG an, dass §§ 23, 24 Hessisches Heilberufsgesetz keine wirksame Rechtsgrundlage für das streitige Verwaltungshandeln darstellten. Das Land habe weiterhin die Gesetzgebungskompetenz hinsichtlich des ärztlichen Berufsrechts. Angesichts der vom Landessozialgericht angenommenen Verfassungswidrigkeit der §§ 23, 24 Hessisches Heilberufsgesetz hätte es der Vorlage an das Bundesverfassungsgericht bedurft.

Verfahrensgang:
Sozialgericht Marburg, S 12 KA 304/19, 08.06.2020
Hessisches Landessozialgericht, L 4 KA 36/21, 27.07.2022

Sämtliche Vorschauen zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 42/23.

Terminbericht

Die Revision der Beklagten war erfolgreich. Das Urteil des Landessozialgerichts war aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts zurückzuweisen. Die Beklagte hat zu Recht die Feststellung getroffen, dass der Kläger zur Kostenbeteiligung am ärztlichen Bereitschaftsdienst der Beklagten verpflichtet ist. Hierbei handelt es sich um einen Verwaltungsakt, der über eine reine Information hinausgeht.

Die Pflicht zur Kostenbeteiligung von niedergelassenen Privatärzten in Hessen am ärztlichen Bereitschaftsdienst der Beklagten ergibt sich aus § 23 Nummer 2 Hessisches Heilberufsgesetz. Der Kläger ist trotz seiner altersbedingten Befreiung von der aktiven Teilnahme zur Mitfinanzierung des ärztlichen Bereitschaftsdienstes verpflichtet. Weder Landesrecht noch das Satzungsrecht der Landesärztekammer und der Beklagten sehen eine Kostenbefreiung für den Fall vor, dass ‑ wie hier ‑ die privatärztliche Praxis weiterhin aktiv ausgeübt wird. Zur Auslegung von Vorschriften des Landesrechts war der Senat hier berechtigt.

Bundes- beziehungsweise Verfassungsrecht schließt eine verpflichtende Teilnahme und Kostenbeteiligung von niedergelassenen Privatärzten am ärztlichen Bereitschaftsdienst der Beklagten nicht von vornherein aus. Privatärzte sind hierzu nicht auf der Grundlage von vertragsarztrechtlichen Bestimmungen verpflichtet. Die Heranziehung eines Nichtvertragsarztes zur Teilnahme und Kostenbeteiligung am ärztlichen Bereitschaftsdienst stellt einen Eingriff in die Berufsfreiheit dar und bedarf einer gesetzlichen Ermächtigung, die mit §§ 23 Nummer 2, 24 Hessisches Heilberufsgesetz vorliegt. Dieser landesrechtlichen Ermächtigung steht keine Sperrwirkung durch das Bundesrecht der Vertragsärzte entgegen. Der verpflichtenden Teilnahme niedergelassener Privatärzte und Vertragsärzte am Bereitschaftsdienst liegt keine "Identität der Regelungsmaterie" zugrunde. Nur dann hätte die vom Landessozialgericht angenommene Sperrwirkung eintreten können.

Dem Landesgesetzgeber steht es grundsätzlich frei, wie und in welcher Form er die berufsrechtliche Verpflichtung aller niedergelassenen Privatärzte zur Teilnahme am Bereitschaftsdienst normativ ausgestaltet. Die berufsrechtlichen Vorschriften des Hessischen Heilberufsgesetzes genügen insoweit den verfassungsrechtlichen Anforderungen, wonach sogenannte statusbildende Normen in den Grundzügen durch ein förmliches Gesetz festgelegt werden müssen. Mit dem in Hessen seit 2019 neu eingeführten Modell der verpflichtenden Einbeziehung der Privatärzte in nur noch einen ärztlichen Bereitschaftsdienst der Beklagten wird der legitime Zweck verfolgt, eine unnötige organisatorische Doppelgleisigkeit im Notfalldienst zu vermeiden. Der Kläger kann sich hinsichtlich der begehrten Befreiung von der Kostenbeteiligung auch nicht auf seine Freistellung von der aktiven Teilnahme am Bereitschaftsdienst berufen. Denn er zieht aus der Organisationsstruktur den Vorteil, dass er durch den ärztlichen Bereitschaftsdienst bei der Versorgung von Notfällen entlastet wird.

Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 42/23.

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