Bundessozialgericht

Verhandlung B 3 P 5/22 R

Pflegeversicherung - wohnumfeldverbessernde Maßnahme - videogestützte Türöffnungsanlage - Entschädigung - verzögerte Bescheidung

Verhandlungstermin 30.11.2023 14:00 Uhr

Terminvorschau

V. S. ./. Debeka Krankenversicherungsverein a.G.
Im Streit stehen eine videogestützte Türöffnungsanlage als Maßnahme der Wohnumfeldverbesserung sowie eine Entschädigung wegen Versäumnis der Bescheidungsfrist hierzu.

Der 1958 geborene, beihilfeberechtigte und beim beklagten privaten Krankenversicherungsunternehmen pflegeversicherte Kläger leidet an den Folgen eines Schädel-Hirn-Traumas, einer erheblichen Einschränkung der Gehfähigkeit mit erforderlicher Rollstuhlnutzung, einem zentralen Schwindel, einem hirnorganischen Psychosyndrom sowie einer an Taubheit grenzenden Schwerhörigkeit. Ihm sind ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 mit einem Einzel-GdB für die beidseitige Schwerhörigkeit von 80 und die Merkzeichen B, G, aG, H, RF sowie Gl und der Pflegegrad 4 zuerkannt. 2018 war der Beklagte verurteilt worden, auf Antrag von Januar 2015 einen Zuschuss für den Einbau eines Treppenlifts vom Erdgeschoss in das Untergeschoss als wohnumfeldverbessernde Maßnahme zu zahlen, um dem Kläger das selbständige Verlassen des Hauses zu ermöglichen.

Über den Ende 2018 gestellten Antrag auf Bezuschussung einer videogestützten Türöffnungsanlage mit zwei Videotürstationen, drei Monitoren sowie zwei Türöffnern zu Gesamtkosten in Höhe von gut 3 800 Euro als weitere wohnumfeldverbessernde Maßnahme entschied der Beklagte nicht.

Das Sozialgericht hat die Klage auf anteilige Bezuschussung der videogestützten Türöffnungsanlage sowie auf Zahlung von 70 Euro für jede begonnene Woche ab Ablauf von 25 Arbeitstagen nach Eingang des Zuschussantrags abgewiesen, das Landessozialgericht hat die Berufung hiergegen nach Einholung eines Gutachtens nach § 109 SGG zurückgewiesen: Die videogestützte Türöffnungsanlage und der 2015 beantragte Treppenlift seien als einheitliche Gesamtmaßnahme zur Verbesserung des individuellen Wohnumfelds des Klägers anzusehen, weshalb deren weitere Bezuschussung ausscheide. Aus der beigezogenen Schwerbehindertenakte ergebe sich, dass die hochgradige zentrale Schwerhörigkeit und ein stark belastender beidseitiger Tinnitus bereits im Januar 2015 vorgelegen habe. Ein Gutachten von Amts wegen sei nicht erforderlich, weil maßgebend die Gegebenheiten in 2014/2015 seien. Die Regelung zur Zahlungspflicht bei verzögerter Bescheidung finde auf Verfahren zur Zuschussgewährung für wohnumfeldverbessernde Maßnahmen keine Anwendung.

Mit seiner vom Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Die Beiziehung der Schwerbehindertenakte durch das Landessozialgericht verletze Verfahrensrecht (§§ 117, 118 SGG, §§ 415 ff ZPO, Artikel 103 Absatz 1 GG) und seine Rechte aus Artikel 9 Absatz 1 DSGVO, Artikel 2 Absatz 1 GG in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 GG. Die Beweiswürdigung verletze § 128 SGG. Materiell seien § 4 Absatz 7 MB/PPV, § 40 Absatz 4 SGB XI sowie § 18 Absatz 3b SGB XI verletzt. Maßgeblich für die Erforderlichkeit der begehrten Maßnahme sei die konkrete Pflegesituation, hier insbesondere die weiter hinzugetretene Mobilitätseinschränkung. Diese begründe die Erforderlichkeit der Bedienung vom jeweiligen Aufenthaltsort aus. Nach den Gesetzesmaterialien sei § 18 Absatz 3b SGB XI auf sämtliche beantragten Leistungen der Pflegeversicherung anwendbar.

Verfahrensgang:
Sozialgericht Nürnberg, S 18 P 55/19, 05.11.2019
Bayerisches Landessozialgericht, L 4 P 78/19, 21.05.2021

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Terminbericht

Die Revision des Klägers war unbegründet. Im Ergebnis zutreffend haben die Vorinstanzen entschieden, dass dem Kläger Zahlungsansprüche gegen den Beklagten aus dem Pflegeversicherungsvertrag nicht zustehen. Eine videogestützte Türöffnungsanlage ist dem Zweck nach keine von der Pflegeversicherung zu bezuschussende Maßnahme der Wohnumfeldverbesserung, sondern ein der Leistungszuständigkeit der Krankenversicherung zuzurechnendes Hilfsmittel zum mittelbaren Behinderungsausgleich. Verzögerungszahlungen hat der Beklagte nicht zu leisten, weil Entscheidungen zur Pflegebedürftigkeit oder zum Pflegegrad des Klägers nicht zu treffen waren. Ob Zahlungspflichten aus dem Krankenversicherungsvertrag mit dem Kläger bestehen, ist im Sozialgerichtsweg nicht zu entscheiden. Auf die Verfahrensrügen kam es hiernach entscheidungserheblich nicht mehr an.

Ob eine technische Hilfe im Haushalt als eine grundsätzlich von der Pflegeversicherung zu bezuschussende Maßnahme zur Verbesserung des individuellen Wohnumfelds eines Pflegebedürftigen anzusehen ist, beurteilt sich nach der Rechtsprechung des Senats in Abgrenzung zur Hilfsmittelversorgung der Krankenversicherung vorwiegend danach, ob die Hilfe ihrem Zweck nach auf eine Anpassung der konkreten Wohnumgebung an die Bedürfnisse des Menschen mit Behinderungen zielt und deshalb in einer anderen Wohnumgebung nicht notwendig ebenso benötigt wird. Von der konkreten Wohnumgebung unabhängige Hilfen sind der Wohnumfeldverbesserung danach ausnahmsweise nur dann zuzurechnen, wenn sie so fest in die konkrete Wohnumgebung einzubauen sind, dass sie bei einem Umzug nach der Verkehrsauffassung regelmäßig am alten Ort verbleiben, weil der Ausbau mit so erheblichen Substanzeinbußen verbunden wäre, dass die Mitnahme nicht sinnvoll erscheint.

Ob eine von der konkreten Wohnumgebung grundsätzlich unabhängige technische Hilfe - wie hier eine videogestützte Türöffnungsanlage zur Aufrechterhaltung der Kommunikation mit Besuchern - nach diesem Maßstab wegen der besonderen Einbauanforderungen ausnahmsweise dennoch den wohnumfeldverbessernden Maßnahmen zuzurechnen ist, beurteilt sich zum einen nach dem technischen Stand zum Versorgungszeitpunkt und zum anderen nach den Anforderungen, die bei einem durchschnittlichen Wohnstandard an eine solche Hilfe und eine dem Wirtschaftlichkeitsgebot (§ 4 Absatz 3, § 29 Absatz 1 SGB IX) genügende Anpassung an die Wohnumgebung üblicherweise zu stellen sind. Durch Besonderheiten der konkreten Wohnumgebung bedingte Anforderungen an den Einbau oder die Ausgestaltung der technischen Hilfe, die bei einem durchschnittlichen Wohnstandard so nicht bestehen, haben deshalb bei der Abgrenzung zwischen wohnumfeldverbessernder Maßnahme einerseits und Krankenversicherungshilfsmittel andererseits regelmäßig außer Betracht zu bleiben.

Hieran gemessen sind videogestützte Türöffnungsanlagen zur Öffnung der Haustür nach dem gegenwärtigen Stand der Technik Hilfsmittel der Krankenversicherung zum mittelbaren Behinderungsausgleich und keine mit Mitteln der Pflegeversicherung zu bezuschussenden Maßnahmen der Wohnumfeldverbesserung. Zwischenzeitlich werden Videotürklingeln von verschiedenen Herstellern als Teil von Smart Home-Lösungen angeboten, die anders als bei der noch 2001 vom Senat der Wohnumfeldverbesserung zugerechneten Gegensprechanlage mit Türdrücker (Bundessozialgericht vom 28. Juni 2001 - B 3 P 3/00 R - SozR 3-3300 § 40 Nr 6) weitgehend kabellos und teilweise auch mit Batterie betrieben werden können. Soweit gleichwohl Aufwand zu ihrer Installation anfällt, rechtfertigt das deshalb nicht mehr den Schluss, dass eine solche Anlage nach der Verkehrsauffassung typischerweise als mit der jeweiligen Wohnumgebung so fest verbunden anzusehen ist, dass sie bei einem Umzug nicht mitgenommen werden kann. Sofern Versicherte behinderungsbedingt nicht in der Lage sind, sich selbständig zu ihrer Wohnungs- oder Haustür zu begeben, um auf ein Klingeln Besucher einzulassen, kann es nach dem zwischenzeitlich erreichten Stand der Technik nur in die Leistungsverantwortung der Krankenversicherung fallen, ihnen die erforderlichen Geräte im Rahmen des Notwendigen als Hilfsmittel zum mittelbaren Behinderungsausgleich zur Verfügung zu stellen, wie es für Lichtsignalanlagen bei Gehörlosigkeit seit langem anerkannt ist. Als Maßnahme der Wohnumfeldverbesserung kann eine solche Anlage danach selbst dann nicht mehr angesehen werden, wenn - was derzeit nicht anzunehmen sein dürfte - ihre Verbreitung in der Bevölkerung so groß wäre, dass sie nicht mehr dem gehobenen Komfortanspruch zuzurechnen und deshalb als allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens aus der Leistungsverantwortung auch der Krankenversicherung auszuscheiden wäre (vergleiche § 33 Absatz 1 Satz 1 Halbsatz 2 SGB V). Denn für eine deshalb aus der Leistungspflicht der Krankenversicherung ausgeschiedene Versorgung kann die Pflegeversicherung ebenfalls nicht in Anspruch genommen werden.

Ob und gegebenenfalls in welchem Umfang der Beklagte den Kläger hiernach als privates Kranken­versicherungsunternehmen mit einer videogestützten Türöffnungsanlage auszustatten hat, kann der Senat wegen seiner insoweit beschränkten Zuständigkeit nicht entscheiden. Zwar entscheidet das Gericht des zulässigen Rechtswegs den Rechtsstreit grundsätzlich unter allen in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkten (§ 17 Absatz 2 Satz 1 GVG). Bei einer Mehrheit prozessualer Ansprüche ist die Rechtswegzuständigkeit indes für jeden Anspruch gesondert zu prüfen. So liegt es hier, weil die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Leistungen der Wohnumfeldverbesserung einerseits und zum mittelbaren Behinderungsausgleich andererseits nach den aufgezeigten Maßstäben so unterschiedlich ausgestaltet sind, dass es sich um verschiedene Streitgegenstände handelt, obwohl der Kläger die begehrte Beteiligung des Beklagten an der videogestützten Türöffnungsanlage nur einmal beanspruchen kann. Mangels Zuständigkeit für Angelegenheiten der privaten Krankenversicherung muss die Entscheidung im Verfahren hier deshalb auf den geltend gemachten Anspruch aus der privaten Pflegeversicherung beschränkt werden.

Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 46/23.

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