Bundessozialgericht

Verhandlung B 7 AS 24/22 R

Grundsicherung für Arbeitsuchende - abschließende Feststellung nach vorläufiger Bewilligung - Nullfestsetzung - gescheiterte Bedarfsgemeinschaft - Mitwirkungsobliegenheiten - Zurechnung

Verhandlungstermin 13.12.2023 11:30 Uhr

Terminvorschau

S. T.-K. - Jobcenter Altmarkkreis Salzwedel
Streitig ist die abschließende Festsetzung einer vorläufigen Leistungsbewilligung für die Monate November 2018 bis April 2019 “auf Null“ sowie die Erstattung der für die Kläger (Mutter und Sohn) vorläufig erbrachten Leistungen.

Die Kläger bildeten im Leistungszeitraum zusammen mit dem Ehemann der Klägerin beziehungsweise dem Vater des Klägers (im Folgenden: E) eine Bedarfsgemeinschaft. E war in dieser Zeit selbstständig erwerbstätig. Das beklagte Jobcenter bewilligte ihnen daher vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Im Mai 2019 trennten sich die die Eheleute. Zur abschließenden Feststellung des Leistungsanspruchs forderte der Beklagte E mehrfach auf, Unterlagen zum Beleg seiner Einnahmen aus der selbständigen Tätigkeit vorzulegen. Er erwiderte, kein Kassenbuch zu führen und über keine Belege, insbesondere Rechnungen hinsichtlich seiner Einnahmen zu verfügen. Einzig eine Aufstellung der zwischen 150 und 220 Euro im Monat schwankenden Einnahmen sei ihm möglich. Alsdann teilte der Beklagte mit, dass eine abschließende Nullfestsetzung beabsichtigt sei, wenn - innerhalb der gesetzten Frist - keine weiteren Unterlagen zu den Einkünften aus der selbstständigen Erwerbstätigkeit vorlegt würden. Letzteres erfolgte nicht. Der Beklagte vollzog daraufhin seine Ankündigung und setzte den Leistungsanspruch im streitigen Zeitraum “auf Null“ fest. Zugleich machte er eine Erstattungsforderung in Höhe von rund 4.300 Euro geltend. Der Widerspruch hiergegen blieb erfolglos. Die Klägerin hatte unter anderem vorgebracht, sich unmittelbar nach dem Ende des Bewilligungszeitraums von E getrennt und keinen Einblick in dessen Geschäftsunterlagen zu haben. Das Sozialgericht hat der Klage stattgegeben und die Bescheide wegen einer fehlerhaften Rechtsfolgenbelehrung durch den Beklagten aufgehoben. Der Berufung des Beklagten hat das Landessozialgericht stattgegeben und die Klage abgewiesen. Die Kläger seien zutreffend über die Folgen der mangelnden Mitwirkung belehrt worden. Die fehlende Mitwirkung des E sei ihnen zuzurechnen, denn zum Zeitpunkt der Erbringung der vorläufigen Leistungen hätte die Bedarfsgemeinschaft noch Bestand gehabt.

Mit ihrer Revision hiergegen rügen die Kläger eine Verletzung des § 41a Absatz 3 SGB II. Weder seien sie im Zeitpunkt der Aufforderung Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft mit E, noch tatsächlich in der Lage gewesen, entsprechende Unterlagen, die sich auf die selbständige Tätigkeit des E bezogen hätten, vorzulegen. Zudem sei die Rechtsfolgenbelehrung inhaltlich objektiv unrichtig und die gesetzte Frist zu kurz bemessen gewesen.

Verfahrensgang:
Sozialgericht Magdeburg, S 22 AS 1625/20, 18.02.2021
Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, L 5 AS 162/21, 17.02.2022

Sämtliche Vorschauen zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 52/23.

Terminbericht

Die Kläger waren mit ihren Revisionen im Wesentlichen erfolgreich. Die abschließende Festsetzung der Leistungen der Kläger für den Zeitraum vom 1. November 2018 bis 30. April 2019 „auf Null“ war rechtswidrig.

Die Klägerin hat Anspruch auf eine abschließende Festsetzung des Alg II durch das beklagte Jobcenter in Höhe des gesetzlichen Regelbedarfs und der kopfteiligen tatsächlichen Bedarfe für Unterkunft und Heizung unter Berücksichtigung eines monatlichen Durchschnittseinkommens des Ehemannes (im Weiteren: E) von 173,33 Euro. Der Kläger (Sohn der Klägerin und E ) hat Anspruch auf Sozialgeld in Höhe der durch Bescheid vom 19. November 2018 vorläufig bewilligten Leistungen.

In Ermangelung einer abschließenden Festsetzung der Leistungen gegenüber dem Kläger - er war nicht Inhaltsadressat der Entscheidung des Beklagten vom 21. August 2019 - ist die Fiktionswirkung einer abschließenden Festsetzung in Höhe der vorläufigen Bewilligung eingetreten. Eine abschließende Festsetzung ist gegenüber dem Kläger erstmals im Widerspruchsbescheid vom 28. Juli 2020, also außerhalb der in § 41a Absatz 5 SGB II vorgesehenen Jahresfrist erfolgt.

Der Anspruch der Klägerin scheitert im Gegensatz zur Auffassung des Beklagten nicht daran, dass sie eine ihr obliegende Mitwirkung verletzt haben könnte. Die Aufforderung des Beklagten zur Mitwirkung gegenüber E zog keine Mitwirkungsobliegenheit der Klägerin nach sich. Denn die Mitwirkungsobliegenheit des § 60 Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 in Verbindung mit Absatz 2 SGB I besteht - auch in einer Partnerschaft - im Grundsatz nur in Bezug auf leistungserhebliche Tatsachen, die dem/der zur Mitwirkung Verpflichteten selbst bekannt sind oder die er/sie sich in zumutbarer Weise beschaffen kann, gegebenenfalls auch Erkenntnisse zum Einkommen und Vermögen des Partners. Unabhängig vom Institut der Bedarfsgemeinschaft, das unter anderem eine horizontale Einkommensverteilung nach sich zieht, verbleibt es bei individuellen Leistungsansprüchen und individuellen Mitwirkungsobliegenheiten. Die Regelung des § 41a SGB II ändert hieran nichts - sie setzt auch die Amtsermittlungspflicht der Behörde nicht aus. Dies folgt aus dem Wortlaut des § 41a Absatz 3 SGB II und systematischen Gesichtspunkten. Nach dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen des Landessozialgerichts ist vorliegend von einem Erkenntnisausfall im Hinblick auf die Einkommens- und Vermögenssituation des E auszugehen - auch die Klägerin war nicht zu Auskünften insoweit in der Lage.

Soweit E seine Mitwirkungsobliegenheiten verletzt haben sollte, schlägt dies nicht auf den Leistungsanspruch der Klägerin und des Sohnes durch. Eine Obliegenheitsverletzung des E löst nicht die Rechtsfolgen der § 41a Absatz 3 Satz 3 und 4 SGB II gegenüber den Klägern aus. Der Wortlaut des § 41a Absatz 3 Satz 3 und 4 SGB II setzt bei einer Mehrheit von Leistungsberechtigten im Zeitpunkt der abschließenden Festsetzung eine Bedarfsgemeinschaft voraus. Nach der Auflösung der Bedarfsgemeinschaft können die an diese Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft/Ehe typisierend geknüpften rechtlichen Erwartungen, die zu einer vorläufigen Bewilligung der Leistungen geführt haben (siehe § 41a Absatz 1 Satz 2 SGB II), jedoch nicht mehr erfüllt werden. Es ist dann anzuknüpfen an die sich neu ergebende Situation - hier E als Einzelperson sowie die Klägerin und der Sohn als Bedarfsgemeinschaft. Verletzen letztere ihre Mitwirkungsobliegenheiten bei der Feststellung der Erkenntnisse für die abschließende Festsetzung nicht, entfällt die Berechtigung des Leistungsträgers ihnen gegenüber nach § 41a Absatz 3 Satz 3 und 4 SGB II vorzugehen.

Nach dem System des § 41a SGB II - wie insbesondere dessen Absatz 5 zeigt - sind dann die Leistungen in Höhe der vorläufig bewilligten festzusetzen, soweit nicht durch andere Angaben oder Amtsermittlung gewonnene Erkenntnisse dieser entgegenstehen. Vorliegend hat E geringfügig andere Einnahmen angegeben als prognostiziert, so dass diese der abschließenden Beurteilung zugrunde zu legen sind.

Insoweit und weil der gegenüber E erlassene Bescheid vom 21. August 2019 nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist, kann offen bleiben, ob die zur Mitwirkung gesetzte Frist angemessen und die Rechtsfolgenbelehrung im Bescheid vom 19. November 2018 im Einzelnen zutreffend war.

Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 52/23.

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