Bundessozialgericht

Verhandlung B 4 AS 4/23 R - ohne mündliche Verhandlung

Grundsicherung für Arbeitsuchende - Unterkunfts- und Heizungskosten - Neuanmietung - Corona-Pandemie

Verhandlungstermin 14.12.2023 00:00 Uhr

Terminvorschau

1. A. D., 2. F. D., 3. H. D. ./. Jobcenter Landkreis Lörrach
Die miteinander verheirateten Kläger zu 1 und 2 bezogen vom zunächst örtlich zuständigen Jobcenter seit dem 1. August 2020 Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Zum 1. Februar 2021 zogen die Kläger zu 1 und 2 in einen anderen Landkreis und damit in den örtlichen Zuständigkeitsbereich des Beklagten um. Für ihre neue Wohnung haben sie eine Miete von insgesamt 1000 Euro zu entrichten. Eine Zusicherung zur Übernahme dieser Kosten wurde vom Beklagten nicht erteilt. Der Beklagte bewilligte den Klägern zu 1 und 2 sowie nach dessen Geburt am 17. Mai 2021 auch dem Kläger zu 3 Leistungen für die Zeit vom 1. Februar bis 31. Juli 2021 und berücksichtigte dabei nur die seiner Ansicht nach angemessenen monatlichen Kosten für Unterkunft und Heizung.

Das Sozialgericht hat den Beklagten verurteilt, den Klägern Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende unter Berücksichtigung der tatsächlichen Kosten für Unterkunft und Heizung zu gewähren. Auf die Berufung des Beklagten hat das Landessozialgericht das Urteil des Sozialgerichts aufgehoben, soweit der Beklagte verurteilt wurde, den Klägern Kosten der Unterkunft und Heizung über die Beträge von jeweils 652,65 Euro in den Monaten Februar bis April 2021, 738,94 Euro im Mai 2021 und jeweils 781,71 Euro in den Monaten Juni und Juli 2021 hinaus zu gewähren, im Übrigen die Berufungen zurückgewiesen und die Klagen abgewiesen. Eine Übernahme der tatsächlichen Kosten für Unterkunft und Heizung könne nicht auf § 67 Absatz 1, Absatz 3 SGB II gestützt werden. Mit § 67 SGB II hätten nur die explizit genannten Vorschriften modifiziert beziehungsweise vorübergehend außer Kraft gesetzt werden sollen. § 67 Absatz 3 Satz 1 SGB II verweise ausschließlich auf § 22 Absatz 1 SGB II und nicht auf § 22 Absatz 4 SGB II. Diese allgemeine Regelung zur Kostenregulierung für Neuanmietungen im Leistungsbezug sei damit nicht coronabedingt suspendiert. Sowohl aus der Systematik des § 67 Absatz 3 SGB II als auch aus dem Sinn und Zweck der Regelung folge, dass diese Vorschrift Neuanmietungen nicht erfasse.

Mit ihren Revisionen rügen die Kläger eine Verletzung von § 22 Absatz 1 SGB II in Verbindung mit § 67 Absatz 3 SGB II. Hieraus ergebe sich, dass für einen Zeitraum von sechs Monaten die tatsächlichen Unterkunftskosten als Bedarf zu berücksichtigen seien. Dass eine Zusicherung nach § 22 Absatz 4 SGB II nicht erteilt worden sei, habe für die Höhe des allein aus § 22 Absatz 1 SGB II folgenden Anspruchs keine Bedeutung.

Verfahrensgang:
Sozialgericht Freiburg, S 22 AS 886/21, 01.12.2021
Landessozialgericht Baden-Württemberg, L 13 AS 3802/21, 24.01.2023

Sämtliche Vorschauen zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 54/23.

Terminbericht

Die Revisionen der Kläger hatten Erfolg. Diese haben für den streitbefangenen Zeitraum Anspruch auf Berücksichtigung der tatsächlichen Kosten für Unterkunft und Heizung.

Die Bedarfe für Unterkunft und Heizung werden gemäß § 22 Absatz 1 Satz 1 SGB II in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen anerkannt, soweit diese angemessen sind. Will das Jobcenter nicht die tatsächlichen Aufwendungen als Bedarf anerkennen, weil es sie für unangemessen hält, muss es grundsätzlich ein Kostensenkungsverfahren durchführen. Dies gilt allerdings nicht im Anwendungsbereich des § 22 Absatz 4 Satz 1 SGB II, der jedenfalls für die Kläger zu 1 und 2 wegen ihres Umzugs eröffnet ist. Bei Fehlen einer Zusicherung im Sinne des § 22 Absatz 4 Satz 1 SGB II werden nur die angemessenen Kosten übernommen.

Welche Kosten angemessen sind, richtet sich im vorliegenden Fall jedoch nach der aufgrund der Corona-Pandemie geschaffenen Sonderregelung des § 67 Absatz 1 und Absatz 3 SGB II. Diese Regelung ist hier in zeitlicher Hinsicht anwendbar, weil der streitbefangene Bewilligungszeitraum am 1. Februar 2021 und damit innerhalb des von § 67 Absatz 1 SGB II in der hier maßgeblichen Fassung ausdrücklich umschriebenen Zeitraums begonnen hat. Auch steht der Anwendung des § 67 Absatz 1 und Absatz 3 SGB II nicht entgegen, dass die Kläger zu 1 und 2 bereits vor dem 1. Februar 2021 Leistungen nach dem SGB II bezogen haben. § 67 Absatz 1 und Absatz 3 SGB II erfasst nicht nur erstmalige Bewilligungen, sondern auch Weiterbewilligungszeiträume. Die sich aus § 67 Absatz 3 Satz 1 SGB II ergebende Rechtsfolge der unwiderlegbaren Vermutung, dass die tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung angemessen sind, tritt zudem in jedem Bewilligungszeitraum erneut ein, der innerhalb des in § 67 Absatz 1 SGB II genannten Zeitraums beginnt.

§ 67 Absatz 3 Satz 1 SGB II ist auch einschlägig, wenn der Leistungsberechtigte während des Leistungsbezugs umgezogen ist. Der Normwortlaut des § 67 Absatz 3 SGB II beschränkt seine Fiktionswirkung zwar auf § 22 Absatz 1 SGB II. Er erstreckt sich nicht auf § 22 Absatz 4 SGB II. Dies führt jedoch zu keinem anderen Ergebnis. Die durch die fehlende Zusicherung bewirkte Begrenzung auf die angemessenen Kosten im Sinne des § 22 Absatz 1 Satz 1 SGB II aktiviert im hier streitbefangenen Zeitraum gerade die Fiktion des § 67 Absatz 3 Satz 1 SGB II.

Allerdings greift die Fiktionswirkung dann nicht ein, wenn ein Leistungsbezieher rechtsmissbräuchlich gehandelt hat. Dies kann im vorliegenden Kontext etwa der Fall sein, wenn eine offensichtlich unangemessen teure Wohnung allein deswegen angemietet wurde, um die eigenen Wohnverhältnisse unter Ausnutzung der Corona-Sonderregelung des § 67 Absatz 3 SGB II zu Lasten der Allgemeinheit zu verbessern. Dafür, dass es sich im vorliegenden Fall so verhält, bieten die Feststellungen des Landessozialgerichts indes keine Anhaltspunkte.

Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Nachtrag zum Terminbericht 54/23.

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