Verhandlung B 10 KG 1/22 R
Kindergeld für sich selbst - Kenntnis - Aufenthaltsort - Mutter - Syrien
Verhandlungstermin
14.12.2023 10:30 Uhr
Terminvorschau
A. A. F. ./. Bundesagentur für Arbeit - Familienkasse - Direktion
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob dem Kläger für den Zeitraum von September 2018 bis Juni 2019 Kindergeld für sich selbst zusteht.
Der 2001 geborene Kläger ist syrischer Staatsangehöriger. Sein Vater ist kurz nach seiner Geburt verstorben. Im Jahr 2015 ist der Kläger aus seinem Heimatort geflohen und nach Deutschland eingereist. Im streitigen Zeitraum verfügte er über eine die Erwerbstätigkeit gestattende Aufenthaltserlaubnis, führte einen eigenen Haushalt und besuchte die Schule.
Ende 2017 hat sich auch seine Familie auf die Flucht begeben und zunächst jeweils nur für kurze Dauer an verschiedenen Orten in Syrien gelebt, zuletzt in der Nähe von Damaskus. Über ihren ungefähren Aufenthalt konnte der Kläger sich zunächst nur über seinen in Katar lebenden Bruder informieren. Später konnte er hin und wieder über das Internet mit seiner Mutter telefonieren.
Den Antrag des Klägers auf Kindergeld für sich selbst lehnte die Beklagte ab. Aufgrund des Kontakts zu seiner Mutter habe der Kläger deren Aufenthalt gekannt. Seine hiergegen gerichtete Klage hat das Sozialgericht abgewiesen.
Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht die Beklagte verurteilt, dem Kläger Kindergeld für den streitgegenständlichen Zeitraum zu zahlen. Eine dem Anspruch entgegenstehende Kenntnis des Aufenthalts könne nur angenommen werden, wenn zumindest ein Elternteil für das Kind “greifbar“ sei. Eine Erreichbarkeit in diesem Sinne erfordere einen verstetigten und nicht nur vorübergehenden Aufenthaltsort sowie eine postalische Erreichbarkeit der Eltern beziehungsweise des verbliebenen Elternteils. Dies folge aus dem Sinn und Zweck des Kindergelds für sich selbst. Die Leistung sei eine reine Sozialleistung, auf die gerade solche Kinder angewiesen seien, denen ihre Eltern oder Verwandten nicht mehr helfen könnten. Dem Kind solle der Kindergeldanspruch erhalten bleiben, solange kein Leistungsberechtigter vorhanden sei, der die kindbedingten Belastungen tragen könnte.
Mit ihrer Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 1 Absatz 2 Satz 1 Nummer 2 Bundeskindergeldgesetz. Dem Anspruch stehe entgegen, dass der Kläger den Aufenthalt seiner Mutter gekannt habe. Eine postalische Erreichbarkeit oder eine Verstetigung des Aufenthalts sei nach dem Wortlaut der Norm, der gerade nicht auf einen “gewöhnlichen Aufenthalt“ abstelle, nicht erforderlich. Vielmehr sei es ausreichend, dass ein Kontakt zu den örtlichen Bedingungen im Aufenthaltsland des Elternteils hergestellt werden könne. Dies sei dem Kläger möglich gewesen. Ferner spreche die Systematik der Vorschrift und ihr nach den Gesetzesmaterialien zugedachter Sinn und Zweck für das Erfordernis einer mit einer Vollwaise vergleichbaren Konstellation. Nach der Intention des Gesetzgebers stehe nur solchen Kindern ein Anspruch auf sozialrechtliches Kindergeld zu, die - anders als der Kläger - nicht wüssten, ob ihre Eltern noch am Leben seien und jemals die Elternstelle wieder einnehmen könnten. Es handele sich um eine Ausnahmeregelung unter Härtefallgesichtspunkten.
Verfahrensgang:
Sozialgericht Berlin, S 2 KG 6/19, 22.01.2020
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, L 4 KG 1/20, 22.09.2022
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Terminbericht
Die Revision des Beklagten war erfolgreich. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Kindergeld für sich selbst, weil er im maßgeblichen Zeitraum von September 2018 bis Juni 2019 den Aufenthalt seiner Mutter kannte.
Kenntnis vom Aufenthalt seiner Eltern im Sinne des § 1 Absatz 2 Satz 1 Nummer 2 Bundeskindergeldgesetz hat ein Kind bereits dann, wenn es weiß, an welchem für das Kind bestimmbaren Ort sich seine Eltern zumindest vorübergehend befinden. Nicht zu kennen braucht das Kind dagegen den Wohnsitz, den gewöhnlichen oder einen "verstetigten" Aufenthalt, die ladungsfähige Anschrift oder eine sonstige, die postalische Erreichbarkeit ermöglichende Adresse seiner Eltern. Denn anders als bei der Einführung des Kindergelds für "alleinstehende Kinder" im Jahr 1986 ermöglichen heute neue und erheblich erleichterte Kommunikationsmöglichkeiten wie insbesondere Mobiltelefonie, E-Mail und Messengerdienste, dass in Deutschland allein lebende Kinder die Beziehung zu ihren Eltern im Ausland aufrechterhalten und sich über deren aktuellen Aufenthaltsort informieren können. Dabei kann gegebenenfalls auch die Unterstützung dritter Personen, zum Beispiel von Familienangehörigen oder Freunden, in Anspruch genommen werden.
Selbst wenn ein Kind zeitweise nicht weiß, an welchem Ort sich seine Eltern zumindest vorübergehend befinden, fehlt ihm noch nicht die Kenntnis ihres Aufenthalts. Dies ist vielmehr erst dann der Fall, wenn aus Sicht des Kindes über die bloße Unkenntnis hinaus keine zumutbare Möglichkeit besteht, innerhalb eines angemessenen Zeitraums in Kontakt mit den Eltern zu treten und dabei den Aufenthaltsort zu erfahren. Ein rechtsmissbräuchliches Sich-Verschließen vor der Kenntnis ist der positiven Kenntnis des Aufenthalts gleichzustellen. Ein solcher Missbrauch kann aber erst dann angenommen werden, wenn das Kind es versäumt, eine sich ihm ohne Weiteres anbietende, gleichsam auf der Hand liegende Erkenntnismöglichkeit wahrzunehmen, deren Erlangung weder besondere Kosten noch Mühen verursacht.
Schließlich begründet eine Unkenntnis vom Aufenthaltsort der Eltern und die Unmöglichkeit der Kontaktaufnahme mit zumutbaren Mitteln nur dann eine fehlende Aufenthaltskenntnis im Sinne des § 1 Absatz 2 Satz 1 Nummer 2 Bundeskindergeldgesetz, wenn Dauer und Ausmaß der Unkenntnis über den Verbleib der Eltern nach den Umständen des Einzelfalls objektiv den endgültigen Verlust der Eltern-Kind-Beziehung befürchten lassen. Denn der Gesetzgeber hat den Anspruch auf Kindergeld für sich selbst zur Vermeidung sozialer Härten geschaffen und deshalb nur für einen sehr begrenzten Personenkreis vorgesehen. Zielgruppe waren Kinder, bei denen nach dem Tod oder der Verschollenheit ihrer Eltern niemand die Elternstelle im Sinne des Kindergeldrechts eingenommen hat, die also einen (vermeintlich) unwiederbringlichen "persönlichen Verlust" erlitten hatten.
Steht die Kenntnis des Kindergeld für sich selbst beanspruchenden Kindes vom Aufenthalt seiner Eltern infrage, hat die Familienkasse diese Unkenntnis in Erfüllung ihrer Amtsermittlungspflicht festzustellen. Dem Kind obliegt es nach allgemeinen sozialrechtlichen Grundsätzen, an den Ermittlungen der Familienkasse zur fehlenden Kenntnis vom Aufenthalt seiner Eltern mitzuwirken, sofern die Mitwirkung angemessen und zumutbar ist. Nach Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten verbleibende Zweifel an der fehlenden Kenntnis des Kindes vom Aufenthalt seiner Eltern gehen nach den allgemeinen Grundsätzen der Beweislastverteilung zu dessen Lasten.
Nach diesen Vorgaben hat der Kläger keinen Anspruch auf Kindergeld für sich selbst, weil er den Aufenthalt seiner Mutter während des streitigen Zeitraums kannte. Bereits bei der Antragstellung hatte er angegeben, zwei- bis dreimal monatlich mit seiner Mutter zu telefonieren. Dadurch hatte er zumindest die zumutbare Möglichkeit, sich nach ihrem aktuellen Aufenthaltsort zu erkundigen. Einen Abriss der Kommunikationsmöglichkeiten, der nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere angesichts der Gefahren und ungeordneten Verhältnisse in einem vom Bürgerkrieg geprägten Land wie Syrien, einen dauerhaften Verlust der Beziehung zu seiner Mutter befürchten ließ, hat der Kläger nicht behauptet. Er ergibt sich auch nicht aus den Feststellungen des Landessozialgerichts.
Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 53/23.