Verhandlung B 3 KR 14/22 R
Krankenversicherung - Arzneimittelvergütung - Apotheke - Zytostatikazubereitung - Verwendung von nicht für den deutschen Markt bestimmten Wirkstoffen
Verhandlungstermin
22.02.2024 14:00 Uhr
Terminvorschau
AOK Bayern - Die Gesundheitskasse ./. M. S.
Im Streit steht ein Schadensersatzanspruch für die Vergütung von Zytostatikazubereitungen in den Jahren 2004 bis 2007.
Die Beklagte war Inhaberin einer Apotheke, in der Zytostatikazubereitungen hergestellt wurden. Mit von ihr aus Fertigarzneimitteln hergestellten und abgegebenen Zytostatikazubereitungen als Rezepturarzneimitteln wurden unter anderem Versicherte der klagenden Krankenkasse behandelt. Die Beklagte verwendete für die Herstellung der streitigen Zytostatikazubereitungen Wirkstoffe, die nicht für den deutschen Markt bestimmt waren, nicht über eine deutsche Pharmazentralnummer verfügten und die im Vergleich zu für den deutschen Markt bestimmten Wirkstoffen deutlich preisgünstiger waren. Jeweils standen in Deutschland wirkstoffgleiche, mit deutscher Pharmazentralnummer versehene Fertigarzneimittel zu deutlich höheren Preisen zur Verfügung. Für die von der Beklagten verwendeten, nicht für den deutschen Markt bestimmten Wirkstoffe bestand in Deutschland kein Preisregime.
Die Beklagte rechnete Zytostatikazubereitungen gegenüber der Klägerin jeweils nach den von der Arzneimittelpreisverordnung in Verbindung mit der vertraglichen “Hilfstaxe“ geregelten einheitlichen Apothekenabgabepreisen ab, welche auf Basis der einheitlichen Herstellerabgabe- und Apothekeneinkaufspreise zur Herstellung verwendeter Fertigarzneimittel auf dem deutschen Markt ermittelt waren (“Lauer-Taxe“), und verwendete dazu die im streitigen Zeitraum zutreffende deutsche Pharmazentralnummer für Rezepturarzneimittel. Durch deren Verwendung war für die Klägerin nicht erkennbar, dass die bei der Herstellung der streitigen Zytostatikazubereitungen verwendeten Fertigarzneimittel nicht für den deutschen Markt bestimmt waren und keine deutsche Pharmazentralnummer hatten. Die entsprechenden Abrechnungen der Beklagten in den Jahren 2003 bis 2007 wurden von der Klägerin vergütet, die von der Beklagten über ihren Beschaffungsweg und die tatsächlichen geringeren Einkaufspreise der verwendeten Wirkstoffe nicht informiert worden war.
Seit 2007 liefen Ermittlungen gegen die Beklagte, von denen die Klägerin in 2007 Kenntnis erlangte. Sie erhob in 2010 Klage auf Feststellung, dass die Beklagte den wegen möglicherweise falscher Abrechnung von Zytostatikarezepturen entstandenen Schaden zu ersetzen habe. In 2011 legte sie eine Schadensbezifferung für die Jahre 2004 bis 2007 in Höhe von 374 999,63 Euro vor und beantragte die Verurteilung der Beklagten zur Schadensersatzzahlung in dieser Höhe. Nachdem die Klägerin in 2012 begonnen hatte, für die Jahre 2004 bis 2007 gegenüber unstreitigen Vergütungsansprüchen der Beklagten aufzurechnen, erhob diese Widerklage wegen einbehaltener Vergütungen. Das Sozialgericht ordnete in 2013 das Ruhen des Verfahrens bis zum Abschluss des Strafverfahrens gegen die Beklagte an, das in 2015 eingestellt wurde.
Im fortgesetzten Verfahren hat die Klägerin an ihrem Schadensersatzanspruch für 2004 bis 2007 festgehalten und insoweit noch nicht aufgerechnete 723,67 Euro sowie einen Schadensersatzanspruch für 2003 geltend gemacht. Die Beklagte hat ihre Widerklage auf Zahlung von 374 275,96 Euro im Wege der Aufrechnung einbehaltener Vergütungen aufrechterhalten. Das Sozialgericht hat die Klage abgewiesen und der Widerklage stattgegeben: Die Zytostatikazubereitungen der Beklagten seien als patientenindividuelle Rezepturarzneimittel mit der zutreffenden Pharmazentralnummer versehen worden und in der geltend gemachten Höhe abrechnungsfähig gewesen. Im Berufungsverfahren hat die Klägerin ihre Klage in Höhe von 69 793,91 Euro zurückgenommen. Das Landessozialgericht hat das Urteil des Sozialgerichts aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin 723,67 Euro zu erstatten, sowie die Widerklage der Beklagten abgewiesen: Der Klägerin stehe ein Schadensersatzanspruch gegen die Beklagte zu, weil diese - ungeachtet fehlender Strafbarkeit - gegen vertragliche Nebenpflichten im öffentlich-rechtlichen Dauerrechtsverhältnis beider Beteiligter verstoßen habe. Die Beklagte, der das Preisbildungssystem für Zytostatikazubereitungen bekannt gewesen sei, sei verpflichtet gewesen, die Klägerin über ihren Beschaffungsweg und die Preise der verwendeten Wirkstoffe aufzuklären. Bei Kenntnis der Klägerin von der Abgabe von Arzneimitteln an ihre Versicherten, deren Wirkstoffe nicht mit einer deutschen Pharmazentralnummer versehen und die entsprechend billiger bezogen worden seien, würde sie entsprechende Leistungen nicht abgenommen und vergütet haben. Der Schaden sei in Höhe der gesamten Vergütung der Zytostatikazubereitungen entstanden. Der Ersatzanspruch für die streitigen Jahre 2004 bis 2007 sei nicht verjährt. Die Klägerin habe mit ihrem Ersatzanspruch rechtmäßig gegenüber unstreitigen Vergütungsansprüchen der Beklagten aufrechnen können, weshalb deren Widerklage ohne Erfolg bleibe.
Mit ihrer vom Senat zugelassenen Revision rügt die Beklagte die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Zu Unrecht sei das Landessozialgericht von einer Informationspflicht der Beklagten als ungeschriebener Nebenpflicht ausgegangen und habe einen Schadensersatzanspruch der Klägerin in Höhe der gesamten Vergütung bejaht. Vielmehr habe die Beklagte gegenüber der Klägerin einen Anspruch auf Vergütung der streitigen Zytostatikazubereitungen in der vollen abgerechneten Höhe. Zu Unrecht habe das Landessozialgericht zudem angenommen, dass die vierjährige Verjährung von Schadensersatzansprüchen wegen Verletzung von Nebenpflichten aus öffentlich-rechtlichen Vertragsverhältnissen zwischen Apotheken und Krankenkassen erst mit der Möglichkeit der Kenntnisnahme von der Verletzung der vertraglichen Nebenpflicht zu laufen beginne. Schließlich sei das Landessozialgericht nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen.
Verfahrensgang:
Sozialgericht München, S 18 KR 378/15, 11.07.2019
Bayerisches Landessozialgericht, L 5 KR 591/19, 16.11.2021
Sämtliche Vorschauen zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 1/24.
Terminbericht
Die Revision der Beklagten war erfolglos. Zutreffend hat das Landessozialgericht entschieden, dass sie der klagenden Krankenkasse für die streitigen Zytostatikazubereitungen zur Zahlung von Schadensersatz in Höhe der geleisteten Vergütung verpflichtet ist.
Der vertragliche Schadensersatzanspruch der Klägerin gegen die Beklagte ergibt sich hier aus § 69 SGB V sowie § 61 Satz 2 SGB X, die auf eine ergänzende entsprechende Geltung der Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) für öffentlich-rechtliche Verträge zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern verweisen, und § 241 Absatz 2 sowie § 280 Absatz 1 BGB, die im Leistungserbringungsrecht des SGB V entsprechend anwendbar sind. Diese Rechtsgrundlagen verdrängen vorliegend einen allgemeinen öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch der Klägerin, weil sie die Vergütung nach Maßgabe der gesetzlichen und geschriebenen vertraglichen Regelungen zum Preisrecht der Zytostatikaversorgung nicht ohne Rechtsgrund an die Beklagte geleistet hatte.
Zwischen den Beteiligten bestand im streitigen Zeitraum ein öffentlich-rechtliches Rechtsverhältnis, das durch gesetzliche, untergesetzliche und vertragliche Regelungen näher ausgestaltet war. In diesem Rechtsverhältnis zwischen Krankenkasse und Apothekerin traf die Beklagte eine sich aus ergänzender Vertragsauslegung ergebende ungeschriebene vertragliche Nebenpflicht zur Information der Klägerin über den Beschaffungsweg und den Einkaufspreis der von ihr für die streitigen Zytostatikazubereitungen verwendeten Fertigarzneimittel, weil beide von den vertraglich vorausgesetzten Grundlagen abwichen. Die in den zwischen den Beteiligten geltenden Regelungen vorausgesetzten Grundlagen des Abgabe- wie des Preisregimes waren die Beschaffung von für Zytostatikazubereitungen verwendeten Fertigarzneimitteln, die für den deutschen Markt bestimmt waren zu den für diesen Markt bestimmten Einkaufspreisen. Darüber, dass die Beklagte sich nicht für den deutschen Markt bestimmte Fertigarzneimittel zu deutlich geringeren Einkaufspreisen als nach der Lauer-Taxe beschafft und unter deren Verwendung die streitigen Zytostatika zubereitet sowie abgegeben hatte, bei deren Abrechnung sie die deutlich höheren Preise für Fertigarzneimittel auf dem deutschen Markt angesetzt hatte, hätte sie die Klägerin zu deren Schutz aufklären müssen. Die Verwendung dieser Fertigarzneimittel konnte die Klägerin aufgrund der zutreffenden alleinigen Angabe der Pharmazentralnummer für Rezepturarzneimittel durch die Beklagte bei der Abnahme und Vergütung der streitigen Zytostatikazubereitungen nicht selbst erkennen. Erkennbar war aber für die Beklagte, dass diese Information für die Klägerin von wesentlichem Interesse im Rahmen der Vertragsdurchführung war. Nur durch diese Information konnten ein Ausgleich eines sonst bestehenden eindeutig dem Vertragsgedanken widersprechenden Ungleichgewichts zwischen den beteiligten Vertragspartnern bewirkt und die Vertragsgrundlagen bei Verwendung von nicht vom vertraglich zugrunde gelegten Abgabe- und Preisregime erfasster Fertigarzneimittel vor ihrer einseitigen Aushöhlung bewahrt werden.
Diese Pflicht hat die Beklagte verletzt und dies auch zu vertreten. Sie rechnete über Jahre hinweg ihre Zytostatikazubereitungen auf der Grundlage von Einkaufspreisen nach der Lauer-Taxe ab trotz ihrer deutlich günstigeren tatsächlichen Einkaufspreise für nicht für den deutschen Markt bestimmte Fertigarzneimittel. Die Differenz vereinnahmte sie als ihren Gewinn. Der aus der Pflichtverletzung entstandene, von der Beklagten nach § 249 Absatz 1 BGB zu ersetzende Schaden besteht in Höhe der ihr von der Klägerin für die streitigen Zytostatikazubereitungen geleisteten Vergütung und nicht nur in Höhe der Differenz. Bei Kenntnis der Klägerin vom Beschaffungsweg und den Einkaufspreisen der Beklagten hätte sie deren Zytostatikazubereitungen nicht abnehmen und nicht vergüten dürfen, weil die Abgabe und Abrechnung dieser Zubereitungen außerhalb der für beide Beteiligte geltenden Vertragsgrundlagen erfolgten. Diese Vertragsgrundlagen gingen auch für die Beklagte offenkundig von den Apothekeneinkaufspreisen für die Beschaffung von Fertigarzneimitteln auf dem deutschen Markt aus. An dieser Wertung ist der Senat nicht durch die im anderen Kontext einer Betrugsstrafbarkeit von Apothekern ergangene Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in Strafsachen gehindert (Bundesgerichtshof vom
10. Dezember 2014 - 5 StR 405/13).
Der von der Klägerin geltend gemachte Schadensersatzanspruch ist nicht verjährt. Auf diesen Anspruch findet die vierjährige sozialrechtliche Verjährung Anwendung. Die Verjährungsfrist begann vorliegend in entsprechender Anwendung von § 199 Absatz 1 Nummer 2 BGB mit dem Schluss des Jahres 2007, in dem die Klägerin von den ihren Anspruch begründenden Umständen erstmals Kenntnis erlangte, und war bei ihrer Klageerhebung in 2010 noch nicht abgelaufen. Würde für den Beginn der Verjährungsfrist nicht erst auf den Kenntniszeitpunkt abgestellt, drohte der Schadensersatzanspruch bei einer wie hier zunächst nicht erkennbaren Verletzung einer ungeschriebenen vertraglichen Nebenpflicht zur Information (teilweise) leerzulaufen.
Verfassungsrecht steht der Schadensersatzpflicht der Beklagten nicht entgegen. Artikel 12 Absatz 1 GG schützt nicht eine Gewinnerzielung durch Apotheken um jeden Preis, vielmehr ist das Rechtsverhältnis zwischen Krankenkassen und Apotheken auch in diesem grundrechtlichen Rahmen geprägt von dem Ziel der Wirtschaftlichkeit der Arzneimittelversorgung.
Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 1/24.