Verhandlung B 3 P 1/22 R
Pflegeversicherung - Pflegegeld - Pflegegrad 5 - besondere Bedarfskonstellation
Verhandlungstermin
22.02.2024 15:30 Uhr
Terminvorschau
U. A. ./. Pflegekasse bei der AOK PLUS - Die Gesundheitskasse für Sachsen und Thüringen
Im Streit steht der Anspruch auf Pflegegeld nach dem Pflegegrad 5 aufgrund einer besonderen Bedarfskonstellation.
Der 1962 geborene, bei der beklagten Pflegekasse versicherte Kläger bezog seit 1. Januar 2017 Pflegegeld nach dem Pflegegrad 2. Bei ihm besteht eine angeborene Verkürzung der Arme und Beine mit der Unfähigkeit zum Greifen und Gehen. Auf seinen Höherstufungsantrag bewilligte die Beklagte ihm im Wege der Teilabhilfe seines gegen die Ablehnung höherer Leistungen erhobenen Widerspruchs Pflegegeld nach dem Pflegegrad 3 seit 1. Juni 2017 und lehnte einen Anspruch auf Pflegegeld nach dem Pflegegrad 5 aufgrund einer besonderen Bedarfskonstellation (§ 15 Absatz 4 SGB XI) ab.
Das Sozialgericht hat - gestützt auf ein von ihm eingeholtes Pflegegutachten - die Klage auf Pflegegeld nach dem Pflegegrad 5 aufgrund einer besonderen Bedarfskonstellation abgewiesen. Das Landessozialgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Nach den Gesetzesmaterialien und den Begutachtungs-Richtlinien liege eine besondere Bedarfskonstellation nach § 15 Absatz 4 SGB XI, die eine Zuordnung zum Pflegegrad 5 ungeachtet der Summe der Gesamtpunkte von gewichteten Punkten rechtfertige, nur bei einer Gebrauchsunfähigkeit beider Arme und beider Beine mit einem vollständigen Verlust der Greif-, Steh- und Gehfunktionen vor. So liege es hier nach dem Pflegegutachten nicht; danach könne der Kläger Alltagsaktivitäten trotz seiner erheblichen körperlichen Beeinträchtigungen unter Nutzung geeigneter Hilfsmittel und angeeigneter Kompensationsmechanismen selbständig beziehungsweise teilselbständig mit seinen Armen und Beinen ausführen.
Mit seiner vom Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger die Verletzung von § 15 Absatz 4 SGB XI. Der Gesetzgeber gehe davon aus, dass es mehrere besondere Bedarfskonstellationen gebe. Die Begutachtungs-Richtlinien wiesen zwar nur die Gebrauchsunfähigkeit beider Arme und beider Beine als besondere Bedarfskonstellation aus, doch könne der Kläger im herkömmlichen Sinne nicht greifen, stehen oder gehen. Zudem habe das Landessozialgericht nicht geprüft, ob bei ihm eine vergleichbare Bedarfskonstellation bestehe.
Verfahrensgang:
Sozialgericht Chemnitz, S 28 P 85/18, 29.07.2019
Sächsisches Landessozialgericht, L 9 P 26/19, 26.05.2021
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Terminbericht
Die Revision des Klägers war erfolglos. Zutreffend haben die Vorinstanzen entschieden, dass er kein Pflegegeld nach dem Pflegegrad 5 aufgrund einer besonderen Bedarfskonstellation beanspruchen kann.
Nach § 15 Absatz 4 Satz 1 SGB XI können Pflegebedürftige mit besonderen Bedarfskonstellationen, die einen spezifischen, außergewöhnlich hohen Hilfebedarf mit besonderen Anforderungen an die pflegerische Versorgung aufweisen, aus pflegefachlichen Gründen dem Pflegegrad 5 zugeordnet werden, auch wenn ihre Gesamtpunkte unter 90 liegen. Diese mögliche Zuordnung ergänzt die Ermittlung des Grades der Pflegebedürftigkeit aufgrund des neuen Begriffs der Pflegebedürftigkeit (§ 14 SGB XI) nach Maßgabe des neuen pflegefachlich begründeten Begutachtungsinstruments
(§ 15 Absatz 1 bis 3 SGB XI), ohne dass gesetzlich besondere Bedarfskonstellationen bestimmt worden sind. Nach § 15 Absatz 4 Satz 2 SGB XI konkretisieren der Spitzenverband Bund der Pflegekassen (bis 31. Dezember 2019) beziehungsweise der Medizinische Dienst Bund (ab
1. Januar 2020) in den Richtlinien nach § 17 Absatz 1 SGB XI die pflegefachlich begründeten Voraussetzungen für solche besonderen Bedarfskonstellationen. In den das Gesetz konkretisierenden Begutachtungs-Richtlinien ist nur die Gebrauchsunfähigkeit beider Arme und beider Beine mit vollständigem Verlust der Greif-, Steh- und Gehfunktionen, die nicht durch Einsatz von Hilfsmitteln kompensiert werden, als besondere Bedarfskonstellation ausgewiesen.
Nach der gesetzlichen Konzeption zielt die Ermächtigung zur Ausweisung besonderer Bedarfskonstellationen in den Richtlinien auf eine regelhafte Ergänzung der Einstufung in Pflegegrade für sehr seltene Fallkonstellationen im Sinne einer auf das neue Begutachtungsinstrument abgestimmten Härtefallregelung, nicht aber auf eine Ermächtigung der Verwaltung zur Härtefallentscheidung im Einzelfall. Die Richtlinien entfalten danach zur Gewährleistung einer einheitlichen Rechtsanwendung in der Begutachtungspraxis Bindungswirkung im Verwaltungsbereich und in diesem Rahmen auch gegenüber Versicherten. Ist die Konkretisierung des Gesetzes durch die Richtlinien verfassungsrechtlich zulässig und sind die Grenzen der gesetzlichen Ermächtigung durch die streitige Richtlinienbestimmung gewahrt, sind auch die Gerichte an der Begründung vergleichbarer Bedarfskonstellationen im Einzelfall gehindert. Insoweit hält der Senat an seinen bisherigen Maßstäben fest (Bundessozialgericht vom
28. September 2017 - B 3 P 3/16 R).
Danach erweist sich die gesetzliche Ermächtigung zur untergesetzlichen Normkonkretisierung durch die Begutachtungs-Richtlinien als im Grundsatz verfassungsrechtlich zulässig. Die wesentlichen Vorgaben sind im Gesetz getroffen, konkretere inhaltliche Vorgaben enthalten die Gesetzesmaterialien. Gesetzlich sind zudem die pflegefachliche Ausrichtung der Richtlinien durch Beteiligungsvorschriften vor deren Erlass abgesichert, ein Genehmigungsvorbehalt des Bundesministeriums für Gesundheit für deren Wirksamwerden bestimmt und der Erlass einer Rechtsverordnung durch dieses Ministerium ermöglicht. Die pflegefachlich begründete nähere Bestimmung nur der Gebrauchsunfähigkeit beider Arme und beider Beine als einer besonderen Bedarfskonstellation in den Begutachtungs-Richtlinien hält sich in den Grenzen der gesetzlichen Ermächtigung und steht in Übereinstimmung auch mit den Gesetzesmaterialien. Der Senat hat keine Anhaltspunkte dafür, dass diese Normkonkretisierung zu eng gefasst sein könnte, zumal unter Berücksichtigung des Übergangszeitraums nach Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs und des nach der gesetzlichen Konzeption als lernendes System mit begleitender wissenschaftlicher Evaluation ausgestalteten neuen Begutachtungsinstruments.
Ausgehend hiervon liegt beim Kläger nach den Feststellungen des Landessozialgerichts keine Gebrauchsunfähigkeit beider Arme und beider Beine mit vollständigem Verlust der Greif-, Steh- und Gehfunktionen im Sinne der Richtlinien vor. Es ist revisionsrechtlich insbesondere nicht zu beanstanden, dass das Berufungsgericht bei seiner Überzeugungsbildung die Nutzung geeigneter Hilfsmittel durch den Kläger und dessen im Laufe des Lebens angeeigneten Kompensationsmechanismen berücksichtigt hat.
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