Verhandlung B 3 P 8/22 R
Private Pflegeversicherung - vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten - Erstattung
Verhandlungstermin
22.02.2024 11:00 Uhr
Terminvorschau
1. B. S. 2. H. W. S. ./. Krankenversorgung der Bundesbahnbeamten
Im Streit steht die Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten in einer Angelegenheit der privaten Pflegeversicherung.
Die Kläger sind die Kinder und Rechtsnachfolger des im Klageverfahren verstorbenen Versicherten. Den für seine im Berufungsverfahren verstorbene, bei ihm mitversicherte Ehefrau im Januar 2016 gestellten Antrag auf Leistungen der privaten Pflegeversicherung lehnte die Beklagte - gestützt auf ein Gutachten - ab. Im Ablehnungsschreiben wies sie auf die Möglichkeit hin, Einwendungen geltend zu machen. Auf die von der Klägerin zu 1 als ihren Vater vertretende Rechtsanwältin gegen die Ablehnung geltend gemachten Einwendungen veranlasste die Beklagte ein Zweitgutachten und anerkannte - gestützt hierauf - im April 2016 das Vorliegen der Pflegestufe I, zahlte Leistungen rückwirkend ab Januar 2016 und hob ihre frühere Ablehnung auf. Die Klägerin zu 1, die auch Betreuerin ihres Vaters war, stellte dem Versicherten Rechtsanwaltskosten in Höhe von 350 Euro in Rechnung. Deren Erstattung lehnte die Beklagte im Januar 2017 ab.
Mit seiner Klage verfolgte der Versicherte das Erstattungsbegehren hinsichtlich vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten weiter. Das Sozialgericht hat die Beklagte verurteilt, an die den Rechtsstreit fortführende Ehefrau des Versicherten 350 Euro zu zahlen, und es hat den ebenfalls eingeklagten Zinsanspruch abgewiesen. Das Landessozialgericht hat die nur von der Beklagten eingelegte Berufung zurückgewiesen: Die den Rechtsstreit fortführenden Kläger könnten die Erstattung der streitigen Kosten in analoger Anwendung von § 63 SGB X für die Inanspruchnahme der anwaltlichen Vertretung im erfolgreichen Einwendungsverfahren gegen die Beklagte beanspruchen, weil diese das Einwendungsverfahren für die private Pflegeversicherung in Analogie zum sozialgerichtlichen Vorverfahren (Widerspruchsverfahren) für die soziale Pflegeversicherung ausgestaltet habe. Beide Verfahren ermöglichten die vorgerichtliche Überprüfung von Ablehnungsentscheidungen und trügen zur Entlastung der Sozialgerichte bei, weshalb Rechtsanwaltskosten im erfolgreichen isolierten Einwendungsverfahren in gleicher Weise wie im isolierten Widerspruchsverfahren erstattungsfähig seien. Die Erstattungsforderung sei auch im Übrigen nach Grund und Höhe nicht zu beanstanden.
Mit ihrer vom Landessozialgericht zugelassenen Revision rügt die Beklagte die Verletzung materiellen Rechts. Ein Kostenerstattungsanspruch könne weder direkt noch im Wege der Analogiebildung aus § 63 SGB X abgeleitet werden. Insoweit fehle es bereits an einer planwidrigen Regelungslücke.
Verfahrensgang:
Sozialgericht Bremen, S 25 P 11/18, 16.10.2020
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, L 12 P 47/20, 22.09.2022
Sämtliche Vorschauen zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 1/24.
Terminbericht
Die Revision der Beklagten war erfolglos. Zutreffend haben die Vorinstanzen entschieden, dass sie den klagenden Rechtsnachfolgern ihres verstorbenen Versicherten zur Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten verpflichtet ist.
In Angelegenheiten der privaten Pflegeversicherung finden die Regelungen des § 63 SGB X zur Erstattung von Kosten im Vorverfahren (Widerspruchsverfahren) keine Anwendung, nach denen die notwendigen Aufwendungen für einen erfolgreichen Widerspruch einschließlich der Rechtsanwaltskosten unter näheren Vorgaben erstattungsfähig sind. Die beklagte Krankenversorgung der Bundesbahnbeamten erlässt in Angelegenheiten der privaten Pflegeversicherung keine Verwaltungsakte, weshalb vor Klageerhebung gegen ihre Entscheidungen auch kein Widerspruchsverfahren durchzuführen ist. Dem § 63 SGB X vergleichbare Regelungen zur Erstattung gleichwohl entstandener vorgerichtlicher Aufwendungen enthalten weder die Vorschriften des SGB XI zur privaten Pflegeversicherung noch das Versicherungsvertragsrecht oder die vertraglichen Versicherungsgrundlagen.
Insoweit liegt eine Regelungslücke jedenfalls dann vor, wenn in Angelegenheiten der privaten Pflegeversicherung durch das Versicherungsunternehmen gegen seine ablehnenden Entscheidungen ein vorgerichtliches fakultatives Einwendungsverfahren eröffnet wird, das dem obligatorischen Widerspruchsverfahren gegen Verwaltungsakte einer Pflegekasse in Angelegenheiten der sozialen Pflegeversicherung nachgebildet ist. In einer solchen, hier vorliegenden Konstellation finden die Regelungen des § 63 SGB X entsprechende Anwendung.
Für einen verfahrensrechtlichen Gleichlauf auch in kostenrechtlicher Hinsicht von erfolgreichen Einwendungen und erfolgreichen Widersprüchen sprechen die durch § 23 Absatz 1 Satz 2 SGB XI vorgegebene Gleichwertigkeit von Leistungen der privaten und sozialen Pflegeversicherung und der Gleichlauf in diesen Angelegenheiten mit Blick auf den gerichtlichen Rechtsschutz (Rechtsweg zur Sozialgerichtsbarkeit und Kostenprivilegierung im sozialgerichtlichen Verfahren). Für diesen Gleichlauf im vorgerichtlichen Kostenrecht streitet zudem die Rechtsprechung des Senats, nach der die Unterstützung privat Pflegeversicherter bei der Realisierung der ihnen zustehenden Leistungen und Hilfen nicht hinter den entsprechenden Informations-, Beratungs- und Unterstützungsangeboten im Rahmen der sozialen Pflegeversicherung zurückbleiben darf, weshalb auch die Grundsätze des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs entsprechende Geltung für die private Pflegeversicherung beanspruchen (zuletzt Bundessozialgericht vom 30. August 2023 - B 3 P 4/22 R). Eröffnet ein Versicherungsunternehmen - wie vorliegend - ein Verfahren der vorgerichtlichen Selbstkontrolle seiner Entscheidungen und der Einholung eines Zweitgutachtens auf Einwendungen von Versicherten, korrespondieren dem die Möglichkeit der - häufig hochbetagten - Versicherten, für die Formulierung von Einwendungen einen Rechtsanwalt hinzuzuziehen, und bei einem Erfolg der Einwendungen die Kostenerstattung der Zuziehung eines Rechtsanwalts im isolierten Einwendungsverfahren in entsprechender Anwendung der Regelungen des § 63 SGB X. Ein Verweis der Versicherten auf zivilrechtliche Möglichkeiten, eine Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten zu erlangen, widerspräche dem in dieser Konstellation gebotenen Gleichlauf von privater und sozialer Pflegeversicherung auch in verfahrensrechtlicher Hinsicht.
Die Vorgaben des danach entsprechend anwendbaren § 63 SGB X für die Erstattung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten sind hier für das erfolgreiche Einwendungsverfahren gegen die Leistungsablehnung der Beklagten dem Grunde wie der Höhe nach erfüllt.
Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 1/24.