Verhandlung B 1 KR 36/22 R
Krankenversicherung - Arzneimittelversorgung - Herzinsuffizienz - g-Strophanthin-8-Hydrat - Rezepturarzneimittel - Selbstbeschaffung - Kostenerstattung
Verhandlungstermin
20.03.2024 11:00 Uhr
Terminvorschau
U. K. ./. Techniker Krankenkasse
Die Beteiligten streiten über die Versorgung mit einem Rezepturarzneimittel und die Erstattung der für die Selbstbeschaffung entstandenen Kosten.
Die bei der beklagten Krankenkasse versicherte Klägerin leidet unter anderem an einer Herzinsuffizienz mit Vorhofflimmern. Zur Behandlung dieser Erkrankung beantragte sie bei der Beklagten die Versorgung mit dem Wirkstoff g-Strophanthin-8-Hydrat (im Folgenden g Strophanthin) als Rezepturarzneimittel. Die Rezeptur ist mit einem Fertigarzneimittel vergleichbar, das bis 2011 fiktiv zugelassen war.
Mit ihrem Begehren hatte die Klägerin bei der Beklagten und in den Vorinstanzen keinen Erfolg. Das Landessozialgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt: Die Behandlung einer Herzinsuffizienz mit g-Strophanthin sei zwar nicht “neu“ und unterfalle deshalb nicht dem Erlaubnisvorbehalt des § 135 Absatz 1 SGB V. Das Rezepturarzneimittel sei gleichwohl nicht verordnungsfähig. Seit dem Auslaufen der fiktiven Altzulassung für Fertigarzneimittel mit diesem Wirkstoff fehle es an der Zulassung und damit an einem Nachweis der Wirksamkeit und Unbedenklichkeit. Bei der Klägerin bestehe keine einzigartige Krankheitssituation, die einem Seltenheitsfall gleichgestellt werden könne. Ein Systemversagen sei nicht gegeben. Die Voraussetzungen einer Notstandssituation im Sinne des § 2 Absatz 1a Satz 1 SGB V lägen ebenfalls nicht vor. Nach dem vom Sozialgericht eingeholten Befundbericht sei ein tödlicher Verlauf der Herzinsuffizienz bei der Klägerin ohne Behandlung innerhalb von zwei Jahren und mit Behandlung innerhalb von fünf bis zehn Jahren zu erwarten und damit jedenfalls nicht akut innerhalb eines kürzeren Zeitraums. Der Senat sei deshalb nicht gehalten gewesen, das von der Klägerin beantragte Sachverständigengutachten einzuholen. Die allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung sei im Falle der Klägerin zudem nicht ausgeschöpft, denn für die Behandlung einer Herzinsuffizienz stünden ausreichend zugelassene Fertigarzneimittel zur Verfügung. Die Behauptung der Klägerin, für die Behandlung mit dem zugelassenen Fertigarzneimittel Entresto bestehe bei ihr eine Kontraindikation, finde keine Bestätigung in den vorgelegten ärztlichen Einschätzungen. Medizinische Unterlagen zu eingetretenen unerwünschten Nebenwirkungen der ärztlicherseits vorgeschlagenen Therapieoptionen beziehungsweise zu einem ausgebliebenen Therapieerfolg habe die Klägerin nicht vorgelegt .
Die Klägerin rügt mit ihrer Revision die Verletzung von § 27 in Verbindung mit § 31 SGB V, §§ 103, 128 Absatz 1 SGG, § 2 Absatz 1a SGB V in Verbindung mit Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 GG und Artikel 2 Absatz 1 GG in Verbindung mit Artikel 20 GG sowie § 13 Absatz 3 Satz 1 Fall 2 SGB V.
Verfahrensgang:
Sozialgericht München - S 44 KR 2075/17, 26.11.2019
Bayerisches Landessozialgericht - L 12 KR 685/19, 16.02.2022
Die Vorschau zu dem Verhandlungstermin des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 9/24.
Terminbericht
Der Senat hat die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht wegen fehlender Feststellungen zurückverwiesen.
Der Anspruch Versicherter auf Versorgung mit Arzneimitteln (§ 27 Absatz 1 Satz 2 Nummer 3, § 31 SGB V) unterliegt dem Qualitäts- und dem Wirtschaftlichkeitsgebot (§ 2 Absatz 1 Satz 3, § 12 Absatz 1 SGB V) und den im SGB V und im Arzneimittelgesetz dafür vorgesehenen Sicherungsmechanismen. Letztere fehlen weitgehend im Arzneimittelrecht für Rezepturarzneimittel. Das Rezepturarzneimittel g-Strophanthin wird auch nicht vom Erlaubnisvorbehalt des Gemeinsamen Bundesausschusses gemäß § 135 Absatz 1 Satz 1 SGB V erfasst, da es sich nicht um eine “neue“ Behandlungsmethode handelt. Die Wirksamkeit und Unbedenklichkeit dieses Rezepturarzneimittels ist deshalb von den Krankenkassen und - im Streitfall - von den Sozialgerichten festzustellen. Vorliegend hat das Landessozialgericht nicht festgestellt, ob zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen in dem Sinne vorliegen, dass der Erfolg einer Behandlung in einer ausreichenden Zahl von Behandlungsfällen belegt ist. Sollten valide Studien zur Wirksamkeit und Unbedenklichkeit fehlen, würde sich daraus kein Systemversagen ergeben.
Ob die Voraussetzungen des § 2 Absatz 1a SGB V vorliegen, kann der Senat ebenfalls nicht abschließend entscheiden. Das Vorliegen einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung wird - entgegen der Ansicht des Landessozialgericht - nicht allein dadurch ausgeschlossen, dass sich ein tödlicher Krankheitsverlauf nach ärztlicher Einschätzung nicht vor Ablauf von zwei Jahren verwirklichen wird. Zur Beurteilung einer solchen Extremsituation sind vielmehr stets die konkreten Umstände des Einzelfalls heranzuziehen. Zu berücksichtigen ist etwa ein durch die Unumkehrbarkeit des tödlichen Krankheitsverlaufs verursachter spezifischer Zeitdruck. Dem Sinn und Zweck des § 2 Absatz 1a SGB V widerspräche es, einen Anspruch auf Behandlung mangels Zeitdruck zu verneinen, wenn jede spätere Behandlung zu spät käme und den Eintritt des Todes nicht mehr verhindern könnte. Das Landessozialgericht wird daher Feststellungen zum aktuellen Zustand der Herzerkrankung, der Verlaufsprognose und zum Behandlungszeitfenster für die angestrebte Lebenserhaltung treffen müssen. Soweit das Landessozialgericht festgestellt hat, dass die allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung im Falle der Klägerin nicht ausgeschöpft sei, ist der Senat daran nicht gebunden. Die Klägerin hat dagegen zulässige und begründete Verfahrensrügen vorgebracht.
Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 9/24.