Bundessozialgericht

Verhandlung B 10 ÜG 1/23 R

Entschädigung - überlange Verfahrensdauer - Kostenfestsetzungsverfahren - Erinnerungsverfahren - Gegenvorstellungsverfahren

Verhandlungstermin 21.03.2024 12:00 Uhr

Terminvorschau

D. B. ./. Land Nordrhein-Westfalen
Die Klägerin begehrt vom beklagten Land eine Entschädigung wegen unangemessener Dauer eines vor einem Sozialgericht (Ausgangsgericht) geführten Kostenfestsetzungs-, Erinnerungs- und Gegenvorstellungsverfahrens.

Nach Beendigung eines Klageverfahrens vor dem Ausgangsgericht durch angenommenes Anerkenntnis beantragte die Klägerin im August 2018 gegenüber der dortigen Beklagten die Festsetzung der ihr entstandenen außergerichtlichen Kosten. Nach wechselseitigen Stellungnahmen der Beteiligten im September und Oktober 2018 und Erhebung einer Verzögerungsrüge durch die Klägerin Anfang November 2018 wies der Kostenbeamte mit Beschluss vom 13. November 2018 den Kostenfestsetzungsantrag zurück. Hiergegen legte die Klägerin noch im November 2018 Erinnerung ein. Nach erneuter Verzögerungsrüge im Oktober 2019 erhob sie im Juni 2020 noch während des Erinnerungsverfahrens Entschädigungsklage beim Landessozialgericht. Auf Anforderung des Entschädigungsgerichts übersandte das Ausgangsgericht im August 2020 die Akten und erinnerte im Dezember 2020 und zuletzt Anfang April 2021 an deren Rücksendung. Nach Rücklauf der Akten wies das Ausgangsgericht mit Beschluss vom 20. April 2021 die Erinnerung zurück. Die von der Klägerin im Mai 2021 erhobene Gegenvorstellung verwarf das Ausgangsgericht mit Beschluss vom 27. Dezember 2021 als unzulässig. Dieser Beschluss wurde ihr im Januar 2022 zugestellt.

Das Entschädigungsgericht hat die dem Beklagten im Februar 2022 zugestellte Entschädigungsklage abgewiesen. Die Verfahrensdauer sei nicht unangemessen lang gewesen. Die Gesamtdauer beinhalte das als einheitliches Gerichtsverfahren zu wertende Kostenfestsetzungs-, Erinnerungs- und Gegenvorstellungsverfahren. Das 42 Kalendermonate umfassende Ausgangsverfahren weise einen unterdurchschnittlichen, aber nicht gänzlich geringfügigen Schwierigkeitsgrad und eine unterdurchschnittliche Bedeutung auf. Es seien insgesamt 17 Kalendermonate inaktive Zeiten festzustellen. Der Zeitraum der Aktenversendung an das Entschädigungsgericht gehöre hierzu aber nicht. Das Ausgangsgericht sei seinen Überwachungspflichten nachgekommen, indem es zweimal an die Aktenrücksendung erinnert habe. Eine Verpflichtung zur Fertigung eines Aktendoppels habe noch nicht bestanden. Dem Verfahren seien als Vorbereitungs- und Bedenkzeit insgesamt 18 Kalendermonate zugrunde zu legen, die sich aus drei Monaten für das Kostenfestsetzungsverfahren, zwölf Monaten für das Erinnerungsverfahren und nochmals drei Monaten für das Gegenvorstellungsverfahren zusammensetze. Nach Abzug der 18 Kalendermonate Vorbereitungs- und Bedenkzeit von den 17 Kalendermonaten gerichtlicher Inaktivität verbleibe für die Klägerin kein entschädigungspflichtiges Zeitintervall mehr.

Mit der Revision rügt die Klägerin die Verletzung von § 198 Gerichtsverfassungsgesetz und macht Verfahrensmängel geltend. Das Entschädigungsgericht habe die Dauer der Verzögerung falsch berechnet sowie den Begriff der Angemessenheit insbesondere in Bezug auf die Schwierigkeit und Bedeutung des Ausgangsverfahrens verkannt. Der Zeitraum der Aktenversendung an das Entschädigungsgericht sei dem Ausgangsgericht als inaktive Zeit anzulasten. Es hätte vor Versendung eine Aktenkopie anlegen müssen. Die Vorbereitungs- und Bedenkzeit von insgesamt 18 Kalendermonaten sei zu lang bemessen. Zudem habe das Entschädigungsgericht eine unzulässige Überraschungsentscheidung getroffen. Nach einem gerichtlichen Hinweis, dass eine Entschädigung in Geld grundsätzlich nicht in Betracht komme, und der mehrfachen gerichtlichen Mitteilung, dass angesichts der einfachen Sach- und Rechtslage beabsichtigt sei, ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid zu entscheiden, sei vor der schließlich doch durchgeführten mündlichen Verhandlung kein weiterer Hinweis auf neue Rechtsfragen mehr erfolgt. Auch liege ein Verstoß gegen das Recht auf ein unabhängiges und unparteiisches Gericht vor, weil der Beklagte im Entschädigungsverfahren von dem Präsidenten des Landessozialgerichts vertreten worden sei.

Verfahrensgang:
Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, L 11 SF 116/21 EK SB, 31.08.2022

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Terminbericht

Die Revision der Klägerin ist im Sinne der Aufhebung des Urteils und der Zurückverweisung der Sache an das Entschädigungsgericht begründet. Der Senat kann aufgrund einer fehlenden Gesamtabwägung aller Einzelfallumstände durch das Entschädigungsgericht nicht abschließend entscheiden, in welchem Umfang der Klägerin ein Entschädigungsanspruch wegen überlanger Dauer des vor dem Sozialgericht (Ausgangsgericht) geführten Kostenfestsetzungs-, Erinnerungs- und Gegenvorstellungsverfahrens zusteht.

Das beklagte Land ist im Entschädigungsklageverfahren wirksam durch den Präsidenten des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vertreten worden. Der Einwand der Klägerin, dass ihr Anspruch auf ein unabhängiges und unparteiisches Gericht im Sinne von Artikel 6 Absatz 1 Satz 1 Europäische Menschenrechtskonvention verletzt sei, weil das beklagte Land im Entschädigungsklageverfahren vor dem Landessozialgericht von dessen Präsidenten vertreten worden sei und die zur Entscheidung berufenen Richter diesem Gericht angehören, greift nicht durch. Denn die notwendige sachliche und persönliche Unabhängigkeit der im Entschädigungsverfahren zur Entscheidung berufenen Richter wird durch Artikel 97 Absatz 1 GG und § 26 Absatz 1 Deutsches Richtergesetz gewährleistet.

Das Ausgangsverfahren hat insgesamt elf Kalendermonate unangemessen lang gedauert. Dabei lag über die vom Entschädigungsgericht festgestellten 17 Monate hinaus während weiterer sechs Monate eine Inaktivität des Ausgangsgerichts vor. Die Monate der Aktenübersendung an das Entschädigungsgericht von September bis November 2020 und von Januar bis März 2021 sind Zeiten der Inaktivität. Nach 22 Monaten Verfahrenslaufzeit und 15 Monaten festgestellter Inaktivität hatte sich die Pflicht des Ausgangsgerichts zur Förderung des rechtlich einfach gelagerten Verfahrens trotz einer insgesamt untergeordneten Bedeutung bei Aktenanforderung im August 2020 bereits so stark verdichtet, dass entweder vor der Aktenversendung eine Entscheidung in der Sache zu treffen oder die Anlage eines Aktendoppels zur zeitnahen Erledigung des Verfahrens geboten war. Lediglich die Erinnerung an die Aktenrücksendung im Dezember 2020 enthält eine Aktivität des Ausgangsgerichts zur Verfahrensförderung.

Diesen 23 Monaten der Inaktivität sind lediglich zwölf Monate Vorbereitungs- und Bedenkzeit des Ausgangsgerichts verfahrensübergreifend gegenüber zu stellen. Es ist im Regelfall gerechtfertigt, dem Ausgangsgericht für einem Hauptsacheverfahren nachfolgende Beschlusssachen grundsätzlich eine kürzere Vorbereitungs- und Bedenkzeit zuzubilligen als dem Hauptsacheverfahren, für das dem Ausgangsgericht regelmäßig eine Vorbereitungs- und Bedenkzeit von zwölf Monaten zur Verfügung steht. Dabei ist vorbehaltlich besonderer Umstände des Einzelfalls für das Kostenfestsetzungsverfahren eine regelhafte Vorbereitungs- und Bedenkzeit von drei Monaten und für das Erinnerungsverfahren von sechs Monaten angemessen. Das Verfahren der Gegenvorstellung verlängert als Annex des Ausgangsverfahrens dessen Vorbereitungs- und Bedenkzeit regelhaft um drei Monate. Danach verbleibt eine entschädigungspflichtige Überlänge des Ausgangsverfahrens von elf Monaten.

Der Senat kann jedoch nicht abschließend entscheiden, ob und gegebenenfalls in welcher Höhe der Klägerin ein Anspruch auf Geldentschädigung zusteht oder ob eine Wiedergutmachung auf andere Weise ausreichend ist. Die insoweit erforderliche wertende Gesamtbetrachtung und Abwägung aller Einzelfallumstände hat das Entschädigungsgericht nicht durchgeführt. Dies wird es im wieder eröffneten Entschädigungsklageverfahren nachzuholen haben.

Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 10/24.

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