Verhandlung B 10 ÜG 2/23 R
Entschädigung - überlange Verfahrensdauer - mehrere Klageverfahren - Hauptsacheverfahren - Prozesskostenhilfeverfahren
Verhandlungstermin
21.03.2024 13:15 Uhr
Terminvorschau
1. S. K., 2. V. K., 3. L. K. ./. Land Berlin
Die Kläger begehren Entschädigung wegen unangemessener Dauer von fünf vor dem Sozialgericht Berlin (Ausgangsgericht) zunächst zusammen mit den Klageverfahren und nach deren Erledigung fortgeführten Prozesskostenhilfe-Verfahren.
Die Ausgangsverfahren betrafen in der Hauptsache Ansprüche der Kläger auf höhere Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (Grundsicherung für Arbeitsuchende). Das Ausgangsgericht verband sie im Juni 2017 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung. Die Kläger hatten in allen Verfahren Prozesskostenhilfe beantragt.
Im Mai 2018 wurde das Gerichtsverfahren durch ein Teilanerkenntnis des dortigen Beklagten und dessen Annahme durch die Kläger sowie Klagerücknahme im Übrigen erledigt. Erst im August 2020 bewilligte das Ausgangsgericht den Klägern nachträglich Prozesskostenhilfe für jedes der verbundenen Klageverfahren. Zuvor hatten die Kläger im November 2019 Verzögerungsrügen erhoben.
Das Landessozialgericht als Entschädigungsgericht hat zwei Klägern eine Entschädigung in Höhe von jeweils 7600 Euro und einem Kläger eine solche in Höhe von 9300 Euro wegen unangemessener Dauer der Bearbeitung ihrer Prozesskostenhilfe-Anträge zugesprochen. Die Entschädigungssumme ergebe sich aus den inaktiven Zeiten bei der Bearbeitung der jeweiligen Prozesskostenhilfe-Anträge seit ihrer Einreichung abzüglich einer zwölfmonatigen Vorbereitungs- und Bedenkzeit. Ein Prozesskostenhilfe-Verfahren sei entschädigungsrechtlich nur während der Dauer des Hauptsacheverfahrens als dessen Annex anzusehen. Gehe es diesem voraus oder werde es nach dessen Erledigung fortgeführt, seien hingegen Inaktivitätszeiten wie bei jedem anderen Verfahren zu berücksichtigen. Dabei sei eine Gesamtbetrachtung der Verfahrenslaufzeiten vorzunehmen. Die Entschädigungsansprüche seien für sämtliche Verfahren gesondert zu prüfen. Trotz der Verbindung bleibe jedes Verfahren prozessrechtlich selbstständig. Eine ausnahmsweise Wiedergutmachung auf andere Weise scheide aus.
Mit seiner Revision rügt der Beklagte eine Verletzung von § 198 Gerichtsverfassungsgesetz. Das Entschädigungsgericht habe den Begriff des Gerichtsverfahrens verkannt. Bezugspunkt der Entschädigungsansprüche könnten nicht einzelne prozessuale Ansprüche, sondern nur das zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbundene Verfahren sein. Wie bei einer objektiven Klagehäufung könne dafür auch nur einmal Entschädigung beansprucht werden. Das allein potentiell entschädigungsrelevante Prozesskostenhilfe-Verfahren sei kein gerichtliches Verfahren im Sinne des Entschädigungsrechts. Die Einbeziehung nachlaufender Prozesskostenhilfe-Verfahren in den Schutzbereich der Norm sei auch nicht erforderlich. Vielmehr sei durch den Abschluss des Hauptsacheverfahrens das Rechtsschutzbedürfnis der Kläger vollständig erfüllt. Jedenfalls seien entschädigungsrechtlich allenfalls die Verzögerungen nach Erledigung des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Das Entschädigungsgericht habe zudem zu Unrecht die regelmäßige Vorbereitungs- und Bedenkzeit von zwölf Monaten nicht angepasst. Schließlich sei bereits eine Wiedergutmachung auf andere Weise erfolgt, indem der Präsident des Ausgangsgerichts gegenüber den Klägern schriftlich eine unangemessene Verfahrensdauer festgestellt und bedauert habe.
Verfahrensgang:
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, L 37 SF 55/21 EK AS, 22.09.2022
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Terminbericht
Die Revision des Beklagten war weitgehend begründet. Die Kläger haben jeweils nur Anspruch auf 2200 Euro Entschädigung wegen überlanger Dauer der von ihnen beim Sozialgericht (Ausgangsgericht) nach Erledigung der verbundenen Hauptsacheverfahren isoliert fortgeführten fünf Prozesskostenhilfe-Verfahren. Das Entschädigungsgericht hatte ihnen eine deutlich höhere Entschädigungssumme zugesprochen.
Die fortgeführten Prozesskostenhilfe-Verfahren haben insgesamt 22 Kalendermonate zu lange gedauert. Sie sind mit dem Regelbetrag von 100 Euro monatlich zu entschädigen, je Kläger jedoch insgesamt nur einmal. Wegen der objektiven Klagehäufung durch die Verbindung der Klageverfahren vervielfachen sich die Entschädigungsansprüche für die Prozesskostenhilfe-Verfahren ebenso wenig wie bei verbundenen Hauptsacheverfahren. Daran ändert auch deren zwischenzeitliche Erledigung nichts. Die vom Entschädigungsgericht zugesprochene Entschädigung war daher erheblich abzusenken.
Entschädigungsrechtlich handelt es sich bei den isoliert fortgeführten Prozesskostenhilfe-Verfahren um ein einheitliches und eigenständiges Gerichtsverfahren. Für die Berechnung seiner Gesamtdauer zählt nur der Zeitraum ab Erledigung der verbundenen Hauptsacheverfahren bis zum (jeweiligen) rechtskräftigen Beschluss über die Prozesskostenhilfe.
Das so verstandene, nach Erledigung der verbundenen Klageverfahren im Mai 2018 isoliert fortgeführte Gerichtsverfahren hat 28 Kalendermonate gedauert bis zur Prozesskostenhilfe-Bewilligung im August 2020. In dieser Zeit hat das Ausgangsgericht das Verfahren 22 Monate nicht betrieben.
Diese Verfahrensdauer hat die äußerste Grenze des Angemessenen deutlich überschritten und deshalb das Recht der Kläger auf Rechtsschutz in angemessener Zeit verletzt. Dem Ausgangsgericht war für die Entscheidung in den nachlaufenden Prozesskostenhilfe-Verfahren keine Vorbereitungs- und Bedenkzeit mehr zuzubilligen. Die Voraussetzungen des (jeweiligen) Prozesskostenhilfe-Anspruchs waren jedenfalls nach der Erledigung der verbundenen Hauptsacheverfahren eindeutig geklärt und erfüllt; die Entscheidung darüber bedurfte weder weiterer Überlegung noch einer umfangreichen Begründung. Die vom Bundessozialgericht aus der typischen Struktur sozialgerichtlicher Verfahren abgeleitete regelhafte Zwölf-Monats-Frist für Hauptsacheverfahren lässt sich auf ein nachlaufendes Prozesskostenhilfe-Verfahren nicht übertragen.
Eine Wiedergutmachung auf andere Weise scheidet nach den Feststellungen des Entschädigungsgerichts zu Dringlichkeit und Bedeutung des Verfahrens über die Prozesskostenhilfe-Bewilligung aus.
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