Verhandlung B 3 KR 13/22 R
Krankenversicherung - Hilfsmittelversorgung - motorunterstütztes Handkurbelrollstuhlzuggerät
Verhandlungstermin
18.04.2024 13:00 Uhr
Terminvorschau
C. H. ./. AOK - Die Gesundheitskasse für Niedersachsen
Im Streit steht die Versorgung mit einem motorunterstützten Handkurbelrollstuhlzuggerät durch die gesetzliche Krankenversicherung.
Der 1969 geborene, bei der Beklagten gesetzlich krankenversicherte und am Stadtrand einer Mittelstadt mit 20 000 Einwohnern im Weserbergland lebende Kläger ist seit einer 1989 bei einem Verkehrsunfall erlittenen Querschnittslähmung zur Fortbewegung auf einen Rollstuhl angewiesen, den er selbständig in seinen Pkw verladen und so seinen (Teilzeit-)Arbeitsplatz erlangen kann. Seit einigen Jahren besteht zudem eine Arthrose des Daumensattelgelenks links, die beim Zugreifen auf den Greifreifen des Rollstuhls einen stechend brennenden Schmerz auslöse.
Den 2017 gestellten und zunächst mit dem Wunsch nach sportlicher gesundheitsförderlicher Betätigung und Fahrten zu kleineren Einkäufen oder Fahrradtouren mit Freunden begründeten Antrag auf Versorgung mit einem an dem Rollstuhl zu befestigenden separaten Zuggerät mit Handkurbel und Motorunterstützung für eine Geschwindigkeit bis zu 25 km/h zum Preis von (zu diesem Zeitpunkt) etwa 6500 Euro lehnte die Beklagte nach Beteiligung des Medizinischen Diensts der Krankenversicherung ab. Ein motorunterstütztes Zuggerät sei für die Bewegung im Nahbereich nicht erforderlich; ein restkraftunterstützender Antrieb für die Greifreifen reiche aus.
Das Sozialgericht hat die Klage nach Einholung eines Sachverständigengutachtens abgewiesen: Mit restkraftverstärkten Greifreifen könne sich der Kläger gemessen an der Wegefähigkeit des Erwerbsminderungsrentenrechts den gesamten Nahbereich selbständig erschließen, weshalb ein elektrisches Rollstuhlzuggerät nicht erforderlich sei. Das Landessozialgericht hat nach Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens das Urteil des Sozialgerichts aufgehoben und die Beklagte zur Versorgung mit dem Rollstuhlzuggerät verurteilt: Damit werde die als Grundbedürfnis nicht zu eng zu fassende Erschließung des Nahbereichs verbessert und zugleich einer weitergehenden gesundheitlichen Beeinträchtigung des Klägers vorgebeugt. Der vom Senat beauftragte Sachverständige habe überzeugend dargestellt, dass mit dem Rollstuhlzuggerät anders als mit dem von der Beklagten angebotenen restkraftunterstützenden Aktivrollstuhl aufgrund der konkreten Bedienungsart des Zuggeräts eine Verschlimmerung der beim Kläger vorliegenden Arthrose an den Daumensattelgelenken vermieden werden könne. Im Hinblick auf die gesundheitlichen Implikationen sei dieses Gutachten aussagekräftiger, spezifischer und überzeugender als das erstinstanzlich eingeholte Gutachten. Dass mit dem Rollstuhlzuggerät auch Wege über den Nahbereich hinaus zurückgelegt werden könnten, stehe dem Anspruch nicht entgegen.
Mit ihrer vom Senat zugelassenen Revision rügt die Beklagte die Verletzung materiellen Rechts (§ 33 Absatz 1 Satz 1 SGB V). Die mit dem Leistungsbegehren verfolgten Zwecke reichten über die Versorgungsziele hinaus, für die die Krankenkassen aufzukommen hätten. Ein Hilfsmittel mit einer Motorunterstützung von bis zu 25 km/h überschreite bereits wegen seiner Leistungsfähigkeit das Maß des Notwendigen, weil kein Grundbedürfnis bestehe, sich den Nahbereich schneller als mit durchschnittlicher Schrittgeschwindigkeit zu erschließen. Die Versorgung mit einem elektrischen Rollstuhlzuggerät sei auch deshalb nicht erforderlich, weil andere, wirtschaftlichere Versorgungsalternativen zur Verfügung stünden. Im Übrigen habe der Kläger einen Eigenanteil zu übernehmen.
Verfahrensgang:
Sozialgericht Hildesheim, S 56 KR 152/18, 18.11.2020
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen - L 4 KR 526/20, 13.12.2021
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Terminbericht
Die Revision der Beklagten war unbegründet. Zu Recht hat das Landessozialgericht die Beklagte verurteilt, den Kläger ohne Abzug eines Eigenanteils für ersparte Aufwendungen mit dem streitbefangenen Handkurbelrollstuhlzuggerät mit Motorunterstützung zu versorgen, um ihm eine schmerzfreie Erledigung der üblichen Alltagsgeschäfte im Nahbereich der Wohnung mit seiner (Rest-)Körperkraft zu ermöglichen. Dass damit auch Wege darüber hinaus zurückgelegt und Geschwindigkeiten bis zu 25 km/h erreicht werden können, steht dem nicht entgegen.
Zutreffend ist die Beklagte der Sache nach allerdings davon ausgegangen, dass der Kläger das Rollstuhlzuggerät nicht schon zur Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung oder zur Vorbeugung einer drohenden Behinderung beanspruchen kann. Dafür fehlt es bereits an dem vom Senat hierfür bislang vorausgesetzten engen Zusammenhang zu einer andauernden, auf einem ärztlichen Therapieplan beruhenden Behandlung durch ärztliche und ärztlich angeleitete Leistungserbringer. Dem stünde darüber hinaus jedenfalls derzeit auch die Sperrwirkung des Methodenbewertungsvorbehalts nach § 135 Absatz 1 Satz 1 SGB V entgegen. Hiernach dürfen neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in der vertragsärztlichen Versorgung zulasten der Krankenkassen nur erbracht werden, wenn der Gemeinsame Bundesausschuss auf Antrag Empfehlungen abgegeben hat über unter anderem die Anerkennung des diagnostischen und therapeutischen Nutzens der neuen Methode sowie ihrer Wirtschaftlichkeit. Die dazu erforderlichen Feststellungen zum Stand der medizinischen Erkenntnisse obliegen nach der jüngeren Rechtsprechung des Senats jedenfalls bei Hilfsmitteln zu auch kurativen oder präventiven Zwecken ausschließlich dem Gemeinsamen Bundesausschuss und weder dem verordnenden Arzt noch der in Anspruch genommenen Krankenkasse, wenn sie in medizinischer Hinsicht wesentliche, bisher nicht geprüfte Neuerungen im Vergleich zu in der ambulanten Versorgung etablierten Therapien betreffen.
Das gilt auch hier. Ob Versicherte mit schweren Mobilitätsbeeinträchtigungen nach dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand die Versorgung mit Mobilitätshilfen bereits zu kurativen oder präventiven Zwecken beanspruchen können, weil in Leitlinien medizinischer Fachgesellschaften und von Zentren für Querschnittsgelähmte entsprechende Bewegungsempfehlungen abgegeben wurden, kann in Orientierung an dem Schutzzweck des Methodenbewertungsvorbehalts im Hinblick auf medizinischen Nutzen, Voraussetzungen und Wirtschaftlichkeit allein vom Gemeinsamen Bundesausschuss beurteilt werden; soweit der Senat das in der Vergangenheit anders beurteilt hat, hält er daran nicht fest.
Zutreffend ist das Landessozialgericht indessen davon ausgegangen, dass dem Anspruch auf motorunterstützte Mobilitätshilfen zum Behinderungsausgleich Reichweite und Geschwindigkeit der damit eröffneten Fortbewegung nicht entgegenstehen, sofern der Nahbereich der Wohnung mit eigener Körperkraft anders nicht zumutbar erschlossen werden kann. Ständiger Rechtsprechung nach besteht im Rahmen der originären Leistungszuständigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung zum mittelbaren Behinderungsausgleich Anspruch auf Versorgung mit Hilfsmitteln, die die Auswirkungen der Behinderung im gesamten täglichen Leben beseitigen oder mindern und damit der Befriedigung eines allgemeinen Grundbedürfnisses des täglichen Lebens und einem möglichst selbstbestimmten und selbständigen Leben dienen sollen. Das umfasst beim Verlust der körperlichen Gehfähigkeit solche - ausreichenden und den Anforderungen des Wirtschaftlichkeitsgebots genügenden - Hilfsmittel, die im Nahbereich der Wohnung ein Aufschließen zu den Möglichkeiten von Menschen ohne Mobilitätsbeeinträchtigung erlauben.
Soweit der Senat daraus abgeleitet hat, dass ein Handbike mit einer motorisch unterstützten Geschwindigkeit von bis zu 14 km/h das Maß des an durchschnittlicher Schrittgeschwindigkeit ausgerichteten Notwendigen überschreitet und Versicherte im Erwachsenenalter eine fahrradgleiche mechanische Zugvorrichtung für ihren Rollstuhl nicht beanspruchen können, weil das Grundbedürfnis auf Erschließung eines gewissen körperlichen Freiraums nicht das Zurücklegen längerer Wegstrecken wie beim Radfahren, Joggen oder Wandern umfasse, hält er daran nicht fest, soweit Versicherte den Nahbereich der Wohnung - sofern sie das wünschen - anders als mit einem solchen Hilfsmittel nicht zumutbar mit eigener Körperkraft erschließen können.
Für die Erschließung des Nahbereichs hat die gesetzliche Krankenversicherung beim mittelbaren Behinderungsausgleich nicht nur einzustehen, um die für übliche Alltagsgeschäfte maßgeblichen Orte trotz gesundheitsbedingt eingeschränkter Bewegungsfähigkeit erreichen zu können. Zu den in der Abgrenzung zu den Aufgaben anderer Rehabilitationsträger mit Hilfsmitteln zum mittelbaren Behinderungsausgleich zu befriedigenden allgemeinen Grundbedürfnissen rechnet vielmehr seit jeher auch das Bedürfnis, die Alltagsverrichtungen in diesem Bereich nach Möglichkeit auch unter Einsatz der eigenen (Rest-)Kräfte bewältigen zu können. Das ist Ausdruck der den Behinderungsausgleich in der gesetzlichen Krankenversicherung seit jeher leitenden personalen Autonomie, die in der Teilhabeorientierung des SGB IX sowie dem verfassungsrechtlichen Benachteiligungsverbot des Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 GG in Verbindung mit dem Recht auf persönliche Mobilität nach Artikel 20 UN-Behindertenrechtskonvention zusätzliche Bekräftigung erhalten hat. Im Lichte dessen beinhalten die vom mittelbaren Behinderungsausgleich umfassten Grundbedürfnisse des Gehens, Stehens oder Greifens jenseits von im engeren Sinne spezifisch kurativen oder präventiven Zwecken auch das als elementar anzuerkennende (Grund-)Bedürfnis, sich als körperlich aktiver Mensch mindestens in einem - was die Mobilität betrifft - umgrenzten lokalen Bereich nach Möglichkeit unter Einsatz der eigenen (Rest-)Körperkraft erfahren und bewegen zu können.
Ob der Nahbereich der Wohnung in diesem Sinne nur mit einer motorunterstützten Mobilitätshilfe mit eigener (Rest-)Körperkraft zumutbar erschlossen werden kann, bestimmt sich regelhaft nach den örtlichen Gegebenheiten der erforderlichen Wege zu den wesentlichen Stellen der allgemeinen Versorgung und der Gesunderhaltung auch dann, wenn diese über die von nicht mobilitätsbeeinträchtigten Menschen üblicherweise zu Fuß zurückgelegte Entfernung hinausreichen; soweit der Senat das bisher anders gesehen hat, hält er daran unter Berücksichtigung eines weithin veränderten Mobilitäts- und Bewegungsverhaltens nicht mehr fest. Mit dem seit langem verfolgten Kriterium des Nahbereichs der Wohnung konnte sich über lange Zeit typisierend die Vorstellung verbinden, dass in dem regelmäßig fußläufig erschlossenen Radius im Allgemeinen die maßgeblichen Alltagsgeschäfte im erforderlichen Maße erreicht und daher mit entsprechenden Mobilitätshilfen auch die elementaren Mobilitätsbedürfnisse im Übrigen ausreichend befriedigt werden können und so ein hinreichendes Aufschließen zu den Möglichkeiten nicht mobilitätsbeeinträchtigter Versicherter gewährleistet ist; schon immer schloss das Grundbedürfnis auf Bewegung im Nahbereich auch die Wege ein, die von besonderer Bedeutung für die physische und psychische Gesundheit sind, nämlich zur Aufrechterhaltung der körperlichen Vitalfunktionen und der Erschließung eines für die seelische Gesundheit elementaren Freiraums. Von einer ausreichenden Berücksichtigung dessen kann indes nicht mehr in gleicher Weise typisierend ausgegangen werden, nachdem sich zwischenzeitlich einerseits die Angebotsstrukturen für die üblichen Alltagsverrichtungen der täglichen Versorgung erheblich verändert haben und zugleich auch der Anteil üblicherweise zu Fuß zurückgelegter Wegstrecken - 2017 im Mittel 1,7 km täglich - deutlich zurückgegangen ist und sich andererseits das Bewegungsverhalten im Übrigen vielfach auf Felder verlagert hat, die nicht mehr der Erledigung von Alltagsgeschäften zugeordnet werden können.
Unter Berücksichtigung dessen erscheint es dem Senat als geboten, dem in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherten Risiko des Verlusts der Gehfähigkeit jedenfalls beim Wunsch zur Fortbewegung auch unter Einsatz der eigenen Körperkraft den Ausfall der für die Erledigung der üblichen Alltagsversorgungen erforderlichen Bewegungsmöglichkeiten weiter als bisher auch über übliche fußläufige Entfernungen hinaus zuzuordnen und betroffenen Versicherten damit jedenfalls in diesem Umfang eine Teilhabe an den Bewegungsmöglichkeiten zu eröffnen, die nicht in ihrer Gehfähigkeit beeinträchtigten Versicherten offen stehen und - wenn auch nicht notwendig bei Erledigung der maßgeblichen Alltagsgeschäfte im Sinne der Rechtsprechung zum mittelbaren Behinderungsausgleich - weithin auch im Interesse ihrer physischen und psychischen Gesundheit genutzt werden. Insofern bietet die Entfernung zu den üblichen Stellen der allgemeinen Versorgung und zur Gesunderhaltung nach den örtlichen Gegebenheiten - von besonders gelagerten Ausnahmelagen abgesehen - zur Überzeugung des Senats typisierend weiterhin einen angemessenen Anhaltspunkt dafür, für welches Grundbedürfnis im Bereich der Mobilität die gesetzliche Krankenversicherung in ihrer originären Leistungszuständigkeit für den Behinderungsausgleich zur Aufrechterhaltung der körperlichen Vitalfunktionen und der Erschließung eines für die seelische Gesundheit elementaren Freiraums im Rahmen der Erledigung der üblichen Alltagsgeschäfte einzustehen hat und inwiefern gehbeeinträchtige Versicherte in einem Mindestmaß an den zwischenzeitlich veränderten Bewegungsgewohnheiten vieler nicht mobilitätsbeeinträchtigter Personen teilhaben können, sofern sie den anzuerkennenden Nahbereich der Wohnung in Ausübung ihres Wunsch- und Wahlrechts unter Einsatz ihrer Körperkraft erschließen möchten; ob das in gleicher Weise für rein motorgetriebene Mobilitätshilfen gilt, kann hier offenbleiben.
Ausgehend hiervon beansprucht der Kläger zu Recht die Versorgung mit dem streitbefangenen Handkurbelrollstuhlzuggerät mit Motorunterstützung, nachdem das Landessozialgericht für den Senat bindend festgestellt hat, dass anders als mit diesem eine Verschlimmerung der beim Kläger vorliegenden Arthrose an den Daumensattelgelenken nicht vermieden werden kann. Dass anstelle des dem Kläger zugesprochenen Zuggeräts eine andere Ausführung kostengünstiger oder mit einer - was die Geschwindigkeit betrifft - geringeren Motorleistung verfügbar wäre, hat die Beklagte nicht substantiiert dargetan. Schließlich besteht für eine Heranziehung zu einem Eigenanteil wegen ersparter Aufwendungen für ein Fahrrad nach geltender Rechtslage keine ausreichende Grundlage, weil das Hilfsmittel seiner rechtlichen Bestimmung nach unmittelbar zunächst nur das ausgefallene Gehvermögen im Nahbereich ersetzen soll und Vorgaben für eine Heranziehung wegen darüber hinaus ersparter Aufwendungen - wegen einer fahrradähnlichen Nutzung über den Nahbereich hinaus - dem Gesetzgeber vorbehalten wären.
Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 12/24.