Bundessozialgericht

Verhandlung B 3 KR 16/22 R

Krankenversicherung - Hilfsmittelversorgung - Kind - Kostenerstattung - selbstbeschaffte Brillengläser - akkommodativer Strabismus - Fehlsichtigkeit

Verhandlungstermin 18.04.2024 10:00 Uhr

Terminvorschau

M. T. ./. Techniker Krankenkasse
Im Streit steht die Erstattung weiterer Kosten für selbstbeschaffte Brillengläser in Höhe von 116 Euro.

Der 2011 geborene Kläger ist bei der Beklagten familienversichert und wegen akkommodativen Strabismus sowie Fehlsichtigkeit mit einer Sehhilfe versorgt. 2018 beantragte er bei der Beklagten unter Vorlage einer Folgeverordnung eine Versorgung mit Bifokal-Kunststoffgläsern Typ Excellent mit bis zur Pupillenmitte hochgezogenem Nahteil. Die Verordnung wies für den Fernteil R Sphäre +7,5, Zylinder -2,5, L Sphäre +8,25, Zylinder -1,0 sowie für den Nahteil R Sphäre add, Zylinder +3, L Sphäre add, Zylinder +3 aus. Die vom Kläger beauftragte Optikerin veranschlagte hierfür Kosten von insgesamt 934 Euro.

Die Beklagte bewilligte zunächst Kosten für zwei Gläser in Höhe von insgesamt 390 Euro. Sofern sich der Kläger für eine höherwertige Versorgung entscheide, habe er die Mehrkosten selbst zu zahlen. Der Kläger beschaffte sich die Brille im Folgenden selbst und zahlte für die neuen Brillengläser insgesamt 868 Euro, wobei 240 Euro für Härtung und Entspiegelung anfielen. Bei der Beklagten machte er die weiteren Kosten mit Ausnahme der Kosten für Härtung und Entspiegelung geltend. Die Brillengläser hätten mit einem Brechungsindex von 1,67 angefertigt werden müssen, um leichter zu sein. Dies sei notwendig, weil das Brillengestell sonst trotz Sportbügeln bei Bewegungen des Klägers verrutsche und die Brille nicht die ärztlich vorgeschriebene Wirkung erzielen könne. Die Beklagte lehnte eine weitergehende Kostenübernahme ab. Die Auswahl der optimalen Brillenfassung und deren richtige Anpassung stellten die originäre handwerkliche Aufgabe des Optikers dar. Es stünden zweckmäßige andere Möglichkeiten zur Verfügung, um ein Verrutschen zu vermeiden. Gläser mit einem geringeren Brechungsindex seien ausreichend.

Nach Annahme eines Teilanerkenntnisses hat das Sozialgericht die weitergehende Klage abgewiesen: Der Versorgungsanspruch nach § 33 Absatz 2 Satz 1 SGB V für Versicherte bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres sei entsprechend § 33 Absatz 1 Satz 4 in Verbindung mit § 92 Absatz 1 SGB V durch Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) konkretisiert. Die Hilfsmittel-Richtlinie bestimme abschließend die Voraussetzungen, unter denen eine Versorgung mit hochbrechenden Brillengläsern möglich sei. Diese Voraussetzungen lägen beim Kläger nicht vor. Die Beschlüsse des GBA seien nur eingeschränkt gerichtlich überprüfbar. Anhaltspunkte dafür, dass die beim Kläger vorliegende Konstellation vom GBA nicht bedacht worden wäre und insoweit eine planwidrige Regelungslücke vorliege, seien nicht ersichtlich. Die vom Sozialgericht zugelassene Berufung des Klägers hatte keinen Erfolg. 

Mit seiner vom Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts (§ 33 Absatz 1 Satz 1, Absatz 2 und § 92 Absatz 1 Satz 2 Nummer 6 SGB V). Im Einzelfall habe eine erforderliche Versorgung zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung zu erfolgen, auch wenn die Verordnungsfähigkeit nach der Hilfsmittel-Richtlinie nicht gegeben sei. Zudem sei nicht berücksichtigt worden, dass nach § 92 Absatz 1 Satz 1 SGB V den besonderen Erfordernissen der Versorgung von Kindern und Jugendlichen Rechnung zu tragen sei.

Verfahrensgang:
Sozialgericht Mainz - S 16 KR 2386/19, 08.07.2021
Landessozialgericht Rheinland-Pfalz - L 5 KR 174/21, 07.04.2022

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Terminbericht

Die Revision des Klägers war begründet. Zutreffend beansprucht er in dem geltend gemachten Umfang die Erstattung der Kosten für die von ihm selbst beschafften hochbrechenden Brillengläser, die als therapeutische Sehhilfen zur Behebung des akkommodativen Schielens bei Kindern und Jugendlichen bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres keiner Verordnungsbeschränkung hinsichtlich des Brechungsindex unterliegen.

Gesetzlich Krankenversicherte bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres - wie der Kläger - sind von der Krankenkasse mit Sehhilfen - unter Ausschluss der Kosten des Brillengestells - zu versorgen, soweit dies entweder zur Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung oder zum Ausgleich einer Behinderung erforderlich ist. Das Nähere bestimmt der Gemeinsame Bundesausschuss gestützt auf die allgemeine Ermächtigung zum Erlass von Richtlinien über die Gewähr für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten unter anderem mit Hilfsmitteln und weiterhin auf die gesonderte Ermächtigung zur Bestimmung, “bei welchen Indikationen therapeutische Sehhilfen verordnet werden“. Dementsprechend unterscheidet die von ihm erlassene Hilfsmittel-Richtlinie in der hier maßgebenden Fassung zwischen Sehhilfen zur Verbesserung der Sehschärfe einerseits sowie therapeutischen Sehhilfen andererseits.

Dem sind Vorgaben zum Brechungsindex bei therapeutischen Sehhilfen zur Behebung des akkommodativen Schielens bei Kindern und Jugendlichen bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres nicht zu entnehmen. Während die Hilfsmittel-Richtlinie bei anderen Indikationen für therapeutische Sehhilfen zur Verordnungsfähigkeit im Weiteren auf die Modalitäten der Abgabe von Brillengläsern zur Verbesserung der Sehschärfe verweist, enthält sie einen solchen Verweis beim akkommodativen Schielen nicht. Danach unterliegt die Versorgung von Kindern und Jugendlichen bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres mit Sehhilfen zur Behebung des akkommodativen Schielens weder direkt noch mittelbar den Vorgaben der Hilfsmittel-Richtlinie zur Verbesserung der Sehschärfe. Ausgehend von der nach Funktionalität unterscheidenden Betrachtung dient ein Hilfsmittel nach der Rechtsprechung des Senats der "Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung", wenn es im Rahmen eines medizinisch-therapeutischen Ansatzes im Schwerpunkt zur Behandlung einer Erkrankung eingesetzt wird. Liegt es so, ist eine Sehhilfe zur Behandlung einer Augenerkrankung krankenversicherungsrechtlich auch dann keine Sehhilfe zum Behinderungsausgleich, wenn mit dem Ausgleich der Fehlsichtigkeit zugleich auch Zwecke des (unmittelbaren) Behinderungsausgleichs verfolgt werden. Deshalb kann Abgabeanforderungen für Brillengläser zur Verbesserung der Sehschärfe Bindungswirkung für die Versorgung mit therapeutischen Sehhilfen nur zukommen, soweit der Hilfsmittel-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses deren entsprechende Geltung in einer für die Zwecke der Massenverwaltung - nicht zuletzt im Interesse der anspruchsberechtigten Versicherten - hinreichend deutlichen Weise entnommen werden kann; dafür findet sich indes in Bezug auf den hier streitbefangenen Brechungsindex keine ausreichende Grundlage. Ob diese Vorgaben den besonderen Erfordernissen der Versorgung von Kindern und Jugendlichen in Fällen wie hier hinreichend Rechnung tragen, ist deshalb unbeachtlich.

Hiernach beansprucht der Kläger, bei dem nach dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen des Landessozialgerichts ein akkommodativer Strabismus (= Schielen) vorliegt, zutreffend die Erstattung des noch streitbefangenen Betrags. Soweit die Beklagte Einwendungen hinsichtlich der Höhe geltend macht, ist nicht ersichtlich, dass sich der Kläger im Rahmen der Selbstbeschaffung evident unwirtschaftlich verhalten hat.

Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 12/24.

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