Bundessozialgericht

Verhandlung B 3 KR 17/22 R

Krankenversicherung - Hilfsmittelversorgung - Kind - Schlafstörungen - Matratze - Behinderungsausgleich

Verhandlungstermin 18.04.2024 11:00 Uhr

Terminvorschau

F. E. E. ./. AOK PLUS - Die Gesundheitskasse für Sachsen und Thüringen
Im Streit steht die Versorgung mit einer Matratze, die zur Linderung von Schlafstörungen bei Kindern mit stark beeinträchtigter Mobilität beitragen soll.

Die 2007 geborene, bei der Beklagten gesetzlich krankenversicherte Klägerin erkrankte im Säuglingsalter an einer schweren BNS-Epilepsie, in deren Folge sich ein West-Syndrom mit schwerster komplexer Behinderung entwickelte. Sie leidet infolgedessen an einer frühkindlichen Hirnschädigung mit schwerwiegender psychomotorischer Entwicklungsstörung sowie zentralmotorischer Koordinationsstörung schweren Grades mit muskulärer Hypotonie. Aufgrund dessen fehle die Möglichkeit aktiver Fortbewegung und Kommunikation. Verbunden damit sind nach ärztlicher Einschätzung durch den Bewegungsmangel bedingte und medikamentös nicht behandelbare Schlafstörungen, die vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung bereits 2013 festgestellt worden waren und nächtliche Schlafphasen unterbrochen von längeren Wachphasen sowie Unruhezuständen zur Folge haben.

Den 2015 gestellten Antrag auf Versorgung mit einer nach Erprobung verordneten Lagerungsmatratze, die - nach der Konzeption des Herstellers - die Eigenbewegung des Kindes durch Mikrostimulation unterstützen und dadurch die Schlafqualität fördern soll, lehnte die Beklagte ab.

Das Sozialgericht verurteilte die Beklagte nach Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Versorgung mit der begehrten Matratze und stellte die Bestimmung eines Eigenanteils in Höhe des Anschaffungspreises einer nicht behinderungsadaptierten Kindermatratze in deren Belieben. Die Matratze diene dem mittelbaren Behinderungsausgleich durch Verminderung der nächtlichen Wachphasen im Sinne des ungestörten Nachtschlafs als Befriedigung der allgemeinen Grundbedürfnisse. Das Landessozialgericht hat die Entscheidung des Sozialgerichts aufgehoben und die Klage abgewiesen: Auch wenn unterstellt werde, dass die Matratze konstruktionsbedingt Hilfsmittel und kein allgemeiner Gebrauchsgegenstand sei und ein ungestörter Schlaf zu den allgemeinen Grundbedürfnissen des täglichen Lebens zähle, fehle es an dem ausreichenden Nachweis ihres medizinischen Nutzens. Der dafür nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats erforderliche Konsens der beteiligten Kreise nach dem allgemein anerkannten aktuellen Stand der medizinischen Erkenntnisse (Verweis auf Bundessozialgericht vom 15. März 2012 – B 3 KR 2/11 R – SozR 4-2500 § 33 Nummer 38 Randnummer 21) sei hier nicht feststellbar. Die S3-Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin zum Bereich "Nicht erholsamer Schlaf" bezögen sich weder auf das bei der Klägerin vorliegende Krankheitsbild noch auf das begehrte Matratzensystem. Medizinische Fachveröffentlichungen dazu existierten ebenfalls ebenso nicht wie - außer einer herstellerseitigen - Studien, was der behandelnde Arzt nachvollziehbar bestätigt habe und was seiner Ansicht nach aus strukturellen Gründen auch nicht möglich sei.

Mit ihrer vom Senat zugelassenen Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts (§ 33 Absatz 1 Satz 1 SGB V). Das Hilfsmittel diene ausschließlich dem Behinderungsausgleich und habe keinen Bezug zu einem therapeutischen Konzept, insoweit seien die Anforderungen des Landessozialgerichts an die Erforderlichkeit eines Hilfsmittels zu hoch; insbesondere stelle die begehrte Matratze keine neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode dar, weshalb der Vorbehalt des § 135 Absatz 1 SGB V nicht greife.

Verfahrensgang:
Sozialgericht Dresden, S 25 KR 111/16, 28.10.2019
Sächsisches Landessozialgericht - L 9 KR 333/19, 09.09.2021

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Terminbericht

Die Revision der Klägerin war unbegründet. Im Ergebnis zutreffend hat das Landessozialgericht entschieden, dass die Klägerin keinen Anspruch auf Versorgung mit der streitbefangenen Lagerungsmatratze hat; jedenfalls derzeit steht dem die Sperrwirkung des Methodenbewertungsvorbehalts nach § 135 Absatz 1 Satz 1 SGB V entgegen.

Hiernach dürfen neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in der vertragsärztlichen Versorgung zulasten der Krankenkassen nur erbracht werden, wenn der Gemeinsame Bundesausschuss auf Antrag Empfehlungen abgegeben hat über unter anderem die Anerkennung des diagnostischen und therapeutischen Nutzens der neuen Methode sowie deren medizinische Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit nach dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse. Soweit hierzu Feststellungen zum allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu treffen sind, obliegen diese nach der neueren Rechtsprechung des Senats mindestens bei jedenfalls auch zu kurativen oder präventiven Zwecken bestimmten Hilfsmitteln ausschließlich dem Gemeinsamen Bundesausschuss und weder dem verordnenden Arzt noch der in Anspruch genommenen Krankenkasse, wenn sie in medizinischer Hinsicht wesentliche, bisher nicht geprüfte Neuerungen im Vergleich zu in der ambulanten Versorgung etablierten Therapien betreffen.

Stellen sich dementsprechend Fragen zur Erforderlichkeit einer Methodenbewertung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss ernstlich, entfaltet die Regelung des § 135 Absatz 1 SGB V vorwirkende Sperrwirkungen im Hinblick auf jedes in der gesetzlichen Krankenversicherung neu einzusetzende Hilfsmittel, solange das dazu berufene - und entsprechend interessenplural zusammengesetzte - Beschlussgremium des Gemeinsamen Bundesausschusses noch nicht entschieden hat, ob dessen Einsatz gemessen an den Schutzzwecken des § 135 Absatz 1 SGB V einer Bewertung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss zu unterziehen ist oder ob sich die Voraussetzungen für die Versorgung und die dabei einzuhaltenden Maßgaben hinreichend sicher aus den bereits eingeführten Einzelelementen der fraglichen Methode ableiten lassen.

Hiernach kann die streitbefangene Lagerungsmatratze jedenfalls derzeit nicht beansprucht werden. Die Matratze zielt nach Funktionalität und Zwecksetzung nicht auf den Ausgleich einer ausgefallenen Körperfunktion, sondern auf eine veränderte Körperwahrnehmung und eine dadurch geminderte Muskelspannung der Klägerin während der Schlafenszeit, um mangels anderer verfügbarer therapeutischer Ansätze jedenfalls so ihre Schlafbeschwerden durch Einwirkung auf menschliche physiologische Funktionen zu lindern. Entsprechend stützt der Hersteller den Nutzen der Lagerungsmatratze auf ein therapeutisches Wirkprinzip (“Therapieform“). Ob es eines gesonderten Bewertungsverfahrens zu der Frage dieses medizinischen Nutzens der Lagerungsmatratze und - kann er als belegt angesehen werden - im Hinblick auf die Voraussetzungen ihrer Inanspruchnahme sowie der dafür gegebenenfalls in Betracht kommenden Krankheitsbilder bedarf, kann nach dem Schutzzweck der Regelung nur von dem dafür zuständigen Gremium des Gemeinsamen Bundesausschusses selbst beurteilt werden.

Das ist auch nicht wegen eines Seltenheitsfalls unbeachtlich, weil - wie schon das Angebot der Herstellerfirma zeigt - die streitbefangene Lagerungsmatratze nicht nur für Schlafbeschwerden wie im Fall der Klägerin angeboten wird und mithin die Möglichkeit von Studien zu den ihr zugesprochenen Eigenschaften nach dem Wirkmechanismus der Lagerungsmatratze nicht auf Krankheitsbilder wie dem der Klägerin beschränkt ist.

Dass die Ein- und Durchschlafstörungen mit langen Wachphasen als Ausprägung des schwerwiegenden Grundleidens der Klägerin selbst Krankheitswert haben, ändert an den vorstehenden rechtlichen Einordnungen nichts.

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