Bundessozialgericht

Verhandlung B 6 KA 25/22 R

Vertragsarztrecht - Plausibilitätsprüfung - Honorarkürzung - Gebührenordnungsposition 21216 EBM-Ä - Fremdanamnese - Zusatzpauschale Heimbetreuung

Verhandlungstermin 05.06.2024 10:00 Uhr

Terminvorschau

Dr. E.  ./.  Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg
Die beklagte Kassenärztliche Vereinigung kürzte nach einer Plausibilitätsprüfung das vertragsärztliche Honorar des als Facharzt für Neurologie und Psychiatrie zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassenen Klägers für das Quartal 2/2014 in Bezug auf die Gebührenordnungsposition 21216 des Einheitlichen Bewertungsmaßstabs für vertragsärztliche Leistungen (EBM-Ä; Fremdanamnese und/oder Anleitung beziehungsweise Betreuung von Bezugspersonen schwer psychisch erkrankter Patienten mit dadurch gestörter Kommunikationsfähigkeit) um 6809,60 Euro auf den Fachgruppendurchschnitt. Der Kläger habe die Gebührenordnungsposition 21216 EBM-Ä routinemäßig neben der Gebührenordnungsposition 21231 EBM-Ä (Zusatzpauschale Kontinuierliche Mitbetreuung eines Patienten mit einer psychiatrischen Erkrankung in beschützenden Einrichtungen oder Pflege- und Altenheimen) sowie der Grundpauschale bei der ersten Visite im Heim im Quartal bei insgesamt 457 Patienten abgerechnet. Der Widerspruch des Klägers, den dieser mit einer Praxisbesonderheit wegen der hohen Zahl an Heimpatienten begründete, blieb erfolglos.

Das Sozialgericht hat nach Vernehmung einer Pflegedienstleitung und eines Pflegers aus zwei der Heime als Zeugen den Kürzungsbescheid aufgehoben. Der Kläger habe die mit der Gebührenordnungsposition 21216 EBM-Ä bezeichnete Leistung trotz der Abrechnungsauffälligkeiten vollumfänglich erbracht. Anders als nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu Nummer 19 EBM-Ä alte Fassung erfordere eine Fremdanamnese neben der Exploration aktueller Beschwerden nicht mehr eine umfassende Erhebung der lebensgeschichtlichen und sozialen Daten der Versicherten. Zudem hätten die Gespräche mit der Pflegedienstleitung beziehungsweise den Pflegern anlässlich der Visite auch die 2. Alternative der Gebührenordnungsposition 21216 EBM-Ä erfüllt. Es habe sich dabei um die Anleitung beziehungsweise Betreuung von Bezugspersonen gehandelt. Das Landessozialgericht hat die Berufung der Beklagten unter Bezugnahme auf die Entscheidungsgründe des Sozialgerichts zurückgewiesen. Zwar habe der Kläger an einzelnen Tagen Gesprächsleistungen von fast neun Stunden erbracht. Aus den Darlegungen des Klägers und den Aussagen der Zeugen ergebe sich jedoch nachvollziehbar, dass die tatsächliche Dauer der Gespräche den für die Gebührenordnungsposition 21216 EBM-Ä erforderlichen Mindestzeitaufwand von je zehn Minuten erreicht habe.

Mit ihrer Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 87 SGB V in Verbindung mit der Gebührenordnungsposition 21216 EBM-Ä sowie der Allgemeinen Bestimmungen des Einheitlichen Bewertungsmaßstabs für vertragsärztliche Leistungen. Die mit der Pflegedienstleitung oder dem Pflegepersonal geführten Gespräche über den Zustand des Patienten seit der letzten Visite stellten keine Fremdanamnese dar. Diese Gespräche seien auch bereits mit der Zusatzpauschale für die Heimbetreuung (Gebührenordnungsposition 21231 EBM-Ä) abgegolten.

Verfahrensgang:
Sozialgericht Stuttgart, S 4 KA 6791/17, 21.10.2021
Landessozialgericht Baden-Württemberg, L 5 KA 3703/21, 26.10.2022

Sämtliche Vorschauen zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 18/24.

Terminbericht

Die Revision der Beklagten war erfolglos. Das Landessozialgericht hat in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise entschieden, dass der angefochtene Kürzungsbescheid für das Quartal 2/2014 rechtswidrig ist. Insbesondere ist das Landessozialgericht zutreffend davon ausgegangen, dass die Abrechnung der Gebührenordnungsposition 21216 des Einheitlichen Bewertungsmaßstabs für vertragsärztliche Leistungen (EBM-Ä) durch den Kläger nicht auf einem Fehlverständnis der Leistungslegende beruht.

Soweit die Gebührenordnungsposition 21216 EBM-Ä in ihrer 2. Alternative die Anleitung beziehungsweise Betreuung von “Bezugspersonen“ schwer psychisch erkrankter Patienten vergütet, kann Bezugsperson jedenfalls bei Versicherten, die dauerhaft in einer Einrichtung leben, auch eine dort tätige Pflegekraft sein. Die Voraussetzungen der Gebührenordnungsposition sind damit auch erfüllt, wenn ein Arzt diese Pflegekraft “anleitet“, etwa indem er ihr Hinweise zum Umgang mit dem Patienten gibt. Ferner setzt die Fremdanamnese nach der 1. Alternative der Gebührenordnungsposition 21216 EBM‑Ä keine umfassende Erhebung der lebensgeschichtlichen und sozialen Daten des Patienten voraus. Sind diese Daten bereits aus der vorangegangenen Behandlung bekannt, reicht es bei einer - wie hier - kontinuierlichen Betreuung aus, wenn lediglich die seit der letzten Behandlung eingetretenen Veränderungen erhoben werden. Dies hat anderseits nicht zur Folge, dass Gespräche, die der Arzt mit Pflegekräften führt, ohne jede Einschränkung gesondert zu vergüten sind, selbst wenn es sich dabei nicht um eine Anamneseerhebung und/oder Anleitung beziehungsweise Betreuung handelt. Erst recht sind die im Rahmen der Visite unmittelbar mit dem kommunikationsgestörten Patienten geführten Gespräche des Arztes nicht nach der Gebührenordnungsposition 21216 EBM-Ä abrechenbar, sondern Teil der bereits mit der Grund- und der Zusatzpauschale vergüteten Leistung, auch wenn zum Beispiel aus Sicherheitsgründen eine Pflegeperson anwesend sein muss.

Die Abrechnung der Gebührenordnungsposition 21216 EBM-Ä ist ferner in demselben Behandlungsfall neben der Gebührenordnungsposition 21220 EBM-Ä möglich, welche in erster Linie auf eine Interaktion mit dem Patienten selbst gerichtet ist. Diese umfasst zwar als fakultativen Inhalt auch die Anleitung der Bezugsperson. Dies schließt eine Nebeneinanderabrechnung aber nicht generell aus. Vielmehr folgt daraus nur, dass dasselbe mindestens zehnminütige Gespräch nicht gleichzeitig nach beiden Gebührenordnungspositionen abgerechnet werden darf. Auch die Abrechnung der Zusatzpauschale für Heimbetreuung im selben Behandlungsfall steht der Abrechnung der Gebührenordnungsposition 21216 EBM-Ä nicht generell entgegen. Begrenzt wird deren Abrechenbarkeit in erster Linie durch das Erfordernis einer mindestens zehnminütigen Dauer, während Gespräche mit einer kürzeren Dauer Teil der mit der Grund- und der Zusatzpauschale vergüteten Leistungen sind. Nach den nicht mit zulässigen Revisionsrügen angegriffenen Feststellungen des Landessozialgerichts haben alle nach der Gebührenordnungsposition
21216 EBM-Ä abgerechneten Gespräche des Klägers die erforderliche Mindestdauer von zehn Minuten erreicht.

Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 18/24.

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