Bundessozialgericht

Verhandlung B 11 AL 3/23 R

Arbeitsförderung - Kurzarbeitergeld - Erstattung von Sozialversicherungsbeiträgen - Übersendung des Leistungsantrags per E-Mail - Zugang - Verfristung - Wiedereinsetzung

Verhandlungstermin 05.06.2024 12:00 Uhr

Terminvorschau

T. GmbH ./. Bundesagentur für Arbeit
Im Streit stehen Ansprüche auf Kurzarbeitergeld für 3240 bei der Klägerin beschäftigte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie der Anspruch der Klägerin auf pauschalierte Erstattung von Sozialversicherungsbeiträgen für den Monat März 2020.

Die Klägerin, ein Handelsunternehmen im Bereich der Lebens- und Genussmittel, mit Filialbetrieben im stationären Einzelhandel, bei der ein Betriebsrat besteht, reduzierte unter anderem im streitigen Monat die betriebsübliche Arbeitszeit von 40 auf 0 Stunden. Hintergrund hierfür war eine Schließungsanordnung in allen Bundesländern für die Filialen des Einzelhandels während der Corona-Pandemie.

Auf die Anzeige der Klägerin stellte die beklagte Bundesagentur mit Bescheid vom 18. April 2020 (sogenannter Anerkennungsbescheid) das Vorliegen eines erheblichen Arbeitsausfalls und das Vorliegen der betrieblichen Voraussetzungen für die Gewährung von Kurzarbeitergeld fest. Weiter heißt es in dem Bescheid, den betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern werde ab dem 1. März 2020 Kurzarbeitergeld bewilligt, wenn die persönlichen Anspruchsvoraussetzungen vorlägen (§ 98 SGB III). Die Leistung sei kalendermonatlich zu beantragen und die Anträge müssten jeweils innerhalb einer Ausschlussfrist von drei Monaten - beginnend mit dem Ablauf des Kalendermonats des Ausfalls - eingereicht werden. Auf später eingehende Anträge könnten keine Leistungen erbracht werden.

Die Klägerin versuchte am 23. Juni 2020 erfolglos einen derartigen Antrag, 250 Seiten umfassend, per E-Mail an die Beklagte zu senden. In einem Telefongespräch mit einem Mitarbeiter der Beklagten verwies dieser auf die begrenzte Kapazität des Postfachs der Beklagten und die Klägerin auf den Postweg. Die noch am selben Tag von der Klägerin zur Post gegebene Sendung ging am 7. Juli 2020 - also verspätet - bei der Beklagten ein. Das Landessozialgericht hat festgestellt, die Betriebsabläufe der Post seien im Juni 2020 erheblich gestört gewesen.

Den von der Klägerin am 14. Juli 2020 gestellten Antrag auf Wiedereinsetzung in die versäumte Frist und Leistungen im dargelegten Umfang lehnte die Beklagte ab. Der Antrag sei erst nach Ablauf der Ausschlussfrist des § 325 Absatz 3 SGB III bei der Beklagten eingegangen. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sei nicht möglich.

Sozialgericht und Landessozialgericht haben den geltend gemachten Anspruch der Klägerin ebenfalls mit Blick auf die versäumte Antragsfrist verneint. Entgegen der Auffassung der Klägerin sei die Leistung nicht bereits mit dem Anerkennungsbescheid bewilligt worden. Es sei auch nicht rechtsmissbräuchlich, dass die Beklagte sich auf den Fristablauf berufe. Wegen des Charakters als Ausschlussfrist komme bei Fristversäumnis ebenso wenig eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in Betracht. Die Klägerin könne ferner nicht im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so gestellt werden, als habe sie den Leistungsantrag für März 2020 vor dem 1. Juli 2020 gestellt. Eine ausnahmsweise Nachsichtgewährung scheide ebenfalls aus.

Mit ihrer vom Landessozialgericht zugelassenen Revision rügt die Klägerin die Verletzung der §§ 157, 133 BGB und § 325 Absatz 3 SGB III.

Verfahrensgang:
Sozialgericht Hamburg, S 44 AL 460/20, 02.03.2022
Landessozialgericht Hamburg L 2 AL 17/22, 18.01.2023

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Terminbericht

Die Revision der Klägerin war im Sinne der Zurückverweisung an das Landessozialgericht zur erneuten Verhandlung und Entscheidung erfolgreich. Das Verfahren leidet unter dem von Amts wegen zu beachtenden Mangel der fehlenden Beiladung des Betriebsrats der Klägerin. Dieser war auch nicht durch Nachholung der Beiladung im Revisionsverfahren zu beheben. Denn der Senat war aufgrund der Feststellungen des Landesozialgerichts nicht in der Lage abschließend zu befinden, ob den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern der Klägerin die von ihr geltend gemachten Ansprüche auf Kurzarbeitergeld und ihr selbst der Anspruch auf pauschalierte Erstattung der Sozialversicherungsbeiträge zustehen.

Zutreffend ist das Landessozialgericht davon ausgegangen, dass sich die Ansprüche nicht bereits aus dem sogenannten Anerkennungsbescheid ergeben. Dieser stellt im Rahmen des zweistufigen Verfahrens die erste Stufe der Entscheidung über den Kurzarbeitergeld-Anspruch dar. Der Verwaltungsakt enthält nur die ausdrücklich durch § 99 Absatz 3 SGB III vorgeschriebene Elementenfeststellung im Hinblick auf die Tatbestandsmerkmale des erheblichen Arbeitsausfalls und der betrieblichen Voraussetzungen. So lag der Fall nach Auslegung des konkreten Anerkennungsbescheides unter Berücksichtigung des objektiven Empfängerhorizontes auch hier. Die beklagte Bundesagentur für Arbeit hat die Bewilligung von Kurzarbeitergeld eindeutig von dem Vorliegen der persönlichen Voraussetzungen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Sinne des § 95 Satz 1 Nummer 3 SGB III abhängig gemacht. Die Prüfung dieser Voraussetzungen erfolgt erst in der zweiten Stufe nach der Beantragung von Kurzarbeitergeld innerhalb einer Frist von drei Monaten nach Ablauf des Kalendermonat des Arbeitsausfalls mit Entgeltausfall (§ 325 Absatz 3 SGB III). Der Antrag der Klägerin ist für den Kalendermonat März 2020 nach Ablauf der Antragsfrist am 30. Juni 2020 am 7. Juli 2020 bei der Beklagten eingegangen.

Eine durch die Corona-Pandemie bedingte teleologische Reduktion des § 325 Absatz 3 SGB III kommt nicht in Betracht. Der Gesetzgeber und die Verwaltung haben auf die pandemiebedingten Einschränkungen mit zahlreichen Maßnahmen reagiert. Unter Berücksichtigung dessen verlangen auch Sinn und Zweck sowie die Entstehungsgeschichte der Vorschrift keine weiteren Einschränkungen ihres Anwendungsbereichs.

Allerdings kann nach den Feststellungen des Landessozialgerichts nicht abschließend beurteilt werden, ob im konkreten Fall von einer Zugangsfiktion auszugehen ist, weil die Beklagte keine hinreichenden Vorkehrungen getroffen hat, um den Antrag auf elektronischem Wege entgegenzunehmen. Ist der Weg zur elektronischen Übermittlung von Dokumenten im Sinne des § 36a SGB I - wie hier - eröffnet, ist dieser von der Behörde zu gewährleisten. Anderenfalls bedarf es entsprechender Hinweise auf eine zwingende Form oder eine technische bedingte Umfangsbegrenzung der übermittelbaren Dokumente (Disclaimer). Fehlt es hieran und folgt die Unmöglichkeit der Übermittlung allein aus in der Sphäre der Verwaltung liegenden Gründen, etwa bei einem überfüllten Postfach, kommt eine Zugangsfiktion in Betracht. Dem Absender zuzurechnende Fehler bei der Übermittlung lösen hingegen keine Zugangsfiktion aus. Dies gilt auch, wenn die Verwaltung beispielsweise als Reaktion auf den fehlgeschlagenen elektronischen Übermittlungsversuch Hinweise zur technisch einwandfreien Übermittlung erteilt. Dann ist der Absender verpflichtet, zumutbare Maßnahmen zur Behebung des zuvor technisch unmöglichen Zugangs zu ergreifen, gegebenenfalls einen weiteren tauglichen Übermittlungsversuch zu unternehmen oder einen anderen geeigneten Übermittlungsweg zu beschreiten. Wird trotz des verwaltungsseitigen Hinweises die Frist durch den Absender versäumt, sind die Voraussetzungen einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand im Sinne des § 27 SGB X zu prüfen.

Grundsätzlich ist eine Wiedereinsetzung in die Frist des § 325 Absatz 3 SGB III beim Kurzarbeitergeld nicht ausgeschlossen. Der Senat erkennt im Gegensatz zum Landessozialgericht insoweit keinen Gleichlauf der Rechtslagen bei Wintergeld und Kurzarbeitergeld. Auch der Verwendung des Begriffs der Ausschlussfrist kommt keine Indizwirkung dafür zu, dass die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beim Kurzarbeitergeld ausgeschlossen sein soll. Dies gilt ebenso für den Sinn und Zweck der Fristenregelung des § 325 Absatz 3 SGB III und die ihm zugrundeliegende Interessenabwägung. Es sind das öffentliche Interesse an einer Vermeidung von Beweisschwierigkeiten, Rechtssicherheit und Verwaltungspraktikabilität mit der materiellen Gerechtigkeit im Einzelfall ins Verhältnis zu setzen. Die materielle Gerechtigkeit ist geprägt von der individuellen Kompensation des Lohnausfalls, der Verhinderung von Arbeitslosigkeit und Stabilisierung bestehender Beschäftigungsverhältnisse. Liegen diese Gründe vor, überwiegen sie grundsätzlich die öffentlichen Interessen. Denn die für die Verwaltung tragende Ermittlung der Beweislage ist durch die Regeln zur objektiven Beweislastverteilung gesichert.

Ob im konkreten Fall die Voraussetzungen einer Wiedereinsetzung nach § 27 SGB X gegeben sind, wird das Landessozialgericht im wiedereröffneten Berufungsverfahren insbesondere unter dem Gesichtspunkt zu prüfen haben, ob die Klägerin ein Verschulden an der Fristversäumnis unter Kenntnis der Bedingungen der Corona-Pandemie trifft. Sollte Wiedereinsetzung zu gewähren sein, ist festzustellen, ob die weiteren Leistungsvoraussetzungen des Anspruchs auf Kurzarbeitergeld gegeben sind.

Im Hinblick auf einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch gilt, dass es Fallkonstellationen geben mag, in denen dieser neben der Zugangsfiktion und der Wiedereinsetzung in Betracht kommt. Im vorliegenden Fall sind nach den Feststellungen des Landessozialgerichts derzeit keine Anhaltspunkte hierfür ersichtlich. Eine Nachsichtgewährung scheidet bereits deshalb aus, weil es an weittragenden und offensichtlich unverhältnismäßigen Rechtsfolgen mangelt.

Die pauschalierte Erstattung von Sozialversicherungsbeiträgen folgt dem Schicksal des Kurzarbeitergeld-Anspruchs.

Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 17/24.

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