Bundessozialgericht

Verhandlung B 10 ÜG 3/23 R

Entschädigung - überlange Verfahrensdauer - 1. Corona-Lockdown - gerichtliche Inaktivität

Verhandlungstermin 11.06.2024 10:15 Uhr

Terminvorschau

I. P. ./. Land Berlin
Der Kläger begehrt von dem Beklagten eine weitere Entschädigung wegen unangemessener Dauer eines vor einem Sozialgericht (Ausgangsgericht) geführten Hauptsacheverfahrens auf Zuerkennung von Grundsicherungsleistungen.

Der Kläger ist griechischer Staatsangehöriger. Er begehrte mit seiner im November 2012 erhobenen Klage im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens Arbeitslosengeld II für die erste Hälfte des Jahres 2012, nachdem das beklagte Jobcenter die Leistungsgewährung abgelehnt hatte, weil er sich nur zur Arbeitssuche in Deutschland aufhalte und deshalb von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen sei. Nach zweimaliger statistischer Erledigung der Klage im Dezember 2013 und im Mai 2015 wurde das Verfahren im Mai 2017 erneut eingetragen. Einen vom Ausgangsgericht Mitte Dezember 2019 telefonisch angebotenen Termin zur mündlichen Verhandlung für Februar 2020 lehnte der Prozessbevollmächtigte wegen Verhinderung ab. Im März 2021 erhob der Kläger Verzögerungsrüge. Im Mai 2021 beraumte das Ausgangsgericht einen Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 22. Juni 2021 an. Das Klageverfahren wurde durch Urteil vom selben Tag mit Verurteilung des zwischenzeitlich beigeladenen Landes zur Gewährung von Leistungen nach dem SGB XII beendet. Das Urteil wurde dem Kläger noch im selben Monat zugestellt.

Außergerichtlich machte der Kläger einen Entschädigungsanspruch in Höhe von 1400 Euro geltend und berief sich auf inaktive Zeiten des Ausgangsgerichts von Februar 2019 bis Januar 2020 (12 Kalendermonate) und von April 2020 bis Mai 2021 (14 Kalendermonate). Der Beklagte erkannte lediglich einen Entschädigungsanspruch in Höhe von 900 Euro an. Dabei ging er von Zeiten gerichtlicher Inaktivität von Februar bis November 2019 (10 Monate) und von Juni 2020 bis April 2021 (11 Monate) aus und billigte dem Ausgangsgericht eine Vorbereitungs- und Bedenkzeit von 12 Monaten zu.

Die im Dezember 2021 erhobene Entschädigungsklage hat der Kläger mit der "Schließung" des Ausgangsgerichts während des ersten Corona-Lockdowns in der Zeit von März bis Mai 2020 begründet. Zwischen den Beteiligten sei allein noch streitig, ob dies eine zusätzliche unangemessene Verzögerung darstelle. Er habe Anspruch auf Entschädigung in Höhe von mindestens weiteren 300 Euro. Er halte wegen der vorsätzlichen Verfahrensverzögerung durch das von der Gerichtsverwaltung veranlasste dreimonatige Herunterfahren des Dienstbetriebs eine höhere monatliche Entschädigung als den Pauschbetrag für angemessen, und zwar 200 Euro pro Monat.

Das Entschädigungsgericht hat den Beklagten zur Zahlung eines weiteren Entschädigungsbetrags von 300 Euro verurteilt, im Übrigen aber die Klage abgewiesen. Die Inaktivität während der ersten Welle der Corona-Pandemie von März bis Mai 2020 stelle keine dem Ausgangsgericht zuzurechnende Verzögerungszeit dar. Das Verfahren habe sich aber um vier weitere Monate entschädigungspflichtig verzögert, und zwar im April 2016, im Januar 2019 sowie im Januar und Februar 2020. Diese Verzögerung sei im eingeklagten Umfang von drei Monaten zu berücksichtigen, obwohl der Kläger diese Monate nicht anspruchsbegründend geltend gemacht habe. Streitgegenstand sei ein Entschädigungsanspruch wegen unangemessener Dauer des vor dem Ausgangsgericht geführten Verfahrens. Welche konkreten Monate innerhalb einer Instanz zur Annahme unangemessener Verfahrensdauer führten, sei lediglich ein Begründungs- oder Berechnungselement, betreffe jedoch nicht den Klagegrund und ändere damit nicht den Streitgegenstand.

Mit der Revision rügt der Beklagte die Verletzung von § 123 Sozialgerichtsgesetz. Das Entschädigungsgericht sei an das Begehren des Klägers gebunden und nicht befugt gewesen, über nicht geltend gemachte Zeiten gerichtlicher Inaktivität zu entscheiden. Außerdem sei dem Entschädigungsgericht der Streitgegenstand bereits durch das vorprozessuale Teilanerkenntnis teilweise entzogen.

Verfahrensgang:
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, L 37 SF 298/21 EK AS

Sämtliche Vorschauen zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 19/24.

Terminbericht

Die Revision des Beklagten war begründet. Das Entschädigungsgericht hat zu Unrecht entschieden, dass dem Kläger über die vom beklagten Land bereits anerkannten 900 Euro hinaus ein weiterer Anspruch auf Geldentschädigung in Höhe von 300 Euro wegen unangemessener Dauer des vor dem Sozialgericht (Ausgangsgericht) geführten Verfahrens zusteht.

Der Kläger hat sein Entschädigungsbegehren und damit den Streitgegenstand auf die Monate März bis Mai 2020 (erster Corona-Lockdown) beschränkt. Deshalb durfte das Entschädigungsgericht die Verurteilung des Beklagten zur Entschädigungszahlung nicht auf weitere Monate (April 2016, Januar 2019 sowie Januar und Februar 2020) stützen.

Der Streitgegenstand eines Entschädigungsklageverfahrens bestimmt sich durch den Klageantrag und den Klagegrund. Der Entschädigungsanspruch ist zeitbezogen geltend zu machen. Einem Entschädigungskläger ist es zuzumuten, sich in seinem Klageantrag auf die Annahme einer bestimmten Dauer der Verzögerung festzulegen und seinen Antrag danach auszurichten. Er braucht sich jedoch nicht auf bestimmte Verfahrensabschnitte des Ausgangsverfahrens, geschweige denn auf einzelne Kalendermonate der Verzögerung festzulegen. Geschieht dies dennoch, wird der Streitgegenstand und damit der zulässige Entscheidungsumfang des Entschädigungsgerichts dadurch begrenzt. Das mit der Klage verfolgte Prozessziel ist im Wege der Auslegung festzustellen. Dazu ist auch das Revisionsgericht berufen.

Hier hat der Kläger sein Entschädigungsbegehren von vornherein auf die Monate März bis Mai 2020 beschränkt und damit den Streitgegenstand und den zulässigen Entscheidungsumfang des Entschädigungsgerichts verbindlich festgelegt und begrenzt. Allein diese Monate hat er zur Begründung seines bezifferten Klageantrags in Höhe "weiterer mindestens 300 Euro" in der Klageschrift angeführt und dies ausweislich des Sitzungsprotokolls in der mündlichen Verhandlung vor dem Entschädigungsgericht nochmals bekräftigt.

Mit seiner Erklärung in der mündlichen Verhandlung, das Entschädigungsgericht sei nicht daran gehindert, auch über andere als von ihm ausdrücklich geltend gemachte Monate zu entscheiden, hat der Kläger den zur Anspruchsbegründung dargelegten Klagegrund nicht geändert. Ohnehin würde eine erst in der mündlichen Verhandlung erklärte nachträgliche Änderung des Klagegrunds zu einer Klageänderung führen. Die geänderte Entschädigungsklage wäre indes unzulässig, weil die Klagefrist von sechs Monaten bereits verstrichen war.

Für die damit allein streitgegenständlichen Monate März bis Mai 2020 im ersten Corona-Lockdown steht dem Kläger jedoch keine Entschädigung zu. Zwar haben staatliche Schutzmaßnahmen in diesem Zeitraum teilweise zu einer weitreichenden gerichtlichen Untätigkeit im Sitzungs- und sonstigen Dienstbetrieb geführt. Als unabdingbare Maßnahmen der Gefahrenabwehr zum Schutz hochrangiger Rechtsgüter begründen sie entschädigungsrechtlich gleichwohl keine staatliche Verantwortung für die verursachte Verfahrensverlängerung. Die durch das Corona-Virus SARS-Cov-2 ausgelösten Covid-19-Erkrankungen erzwangen im März 2020 die Erklärung einer Pandemie durch die Weltgesundheitsorganisation und die Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite durch den Deutschen Bundestag. Die außergewöhnliche Gefahr der Infektion unzähliger Menschen mit dem potentiell tödlichen Virus ließ aus damaliger Sicht ohne sofortige wirksame Gegenmaßnahmen wie insbesondere eine weitreichende Kontaktreduzierung eine katastrophale Überlastung des Gesundheitssystems befürchten.

Zum Schutz der Bevölkerung insbesondere auch vor dem Zusammenbruch des Gesundheitssystems erließen daher die Länder ab März 2020 Corona-Schutzverordnungen mit weitreichenden Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen sowie der Untersagung von Veranstaltungen und Versammlungen. Ausgenommen blieben hiervon zwar unter anderem Sitzungen der Gerichte. Wegen der außergewöhnlichen und neuartigen Gefahrenlage hatten der Justizgewährungsanspruch einschließlich des Anspruchs auf Rechtsschutz in angemessener Zeit jedoch zumindest in dieser frühen Phase der Corona-Pandemie für einen begrenzten Zeitraum von drei Monaten hinter der staatlichen Schutzpflicht für Leben und körperliche Unversehrtheit der Bevölkerung zurückzustehen. Die Gerichtsleitung des Ausgangsgerichts hat daher in dieser außergewöhnlichen Gefahrenlage ihre Pflichten insbesondere zur Gewährleistung von Rechtsschutz in angemessener Zeit aus der erforderlichen ex-ante-Sicht unter Berücksichtigung eines erheblichen Prognose-, Wertungs- und Gestaltungsspielraums nicht verletzt.

Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 19/24.

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