Bundessozialgericht

Verhandlung B 10 ÜG 4/23 R

Entschädigung - überlange Verfahrensdauer - 1. Corona-Lockdown - gerichtliche Inaktivität

Verhandlungstermin 11.06.2024 11:30 Uhr

Terminvorschau

S. K. ./. Land Berlin
Die Klägerin begehrt von dem Beklagten eine weitere Entschädigung in Geld wegen unangemessener Dauer einer vor dem Sozialgericht (Ausgangsgericht) geführten Untätigkeitsklage.

Die Klägerin erhob im Februar 2020 gegen den damaligen Beklagten eine Untätigkeitsklage vor dem Ausgangsgericht auf Bescheidung ihres Widerspruchs gegen einen die Gewährung von Leistungen der Sozialhilfe ablehnenden Bescheid. Nach wechselseitigen Stellungnahmen der Beteiligten wies das Ausgangsgericht im März 2020 auf einen bereits im Dezember 2019 ergangenen Abhilfebescheid des damaligen Beklagten hin. Der Prozessbevollmächtigte hielt an seiner Behauptung fest, Widerspruch für die Klägerin eingelegt zu haben, und rügte die unterbliebene Kostenentscheidung durch den damaligen Beklagten. Im August beziehungsweise Oktober 2020 erklärten die Beteiligten ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung. Die Klägerin erhob im Dezember 2021 Verzögerungsrüge. Das Ausgangsgericht verurteilte den damaligen Beklagten im März 2022 zur Bescheidung des Widerspruchs und Erstattung der notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin. Das Urteil wurde ihr im April 2022 zugestellt.

Im Anschluss hat die Klägerin beim Landessozialgericht als Entschädigungsgericht Prozesskostenhilfe für eine Entschädigungsklage beantragt. Daraufhin hat der jetzige Beklagte im Mai 2022 eine Entschädigung von 800 Euro anerkannt. Nach Bewilligung von Prozesskostenhilfe für einen Streitwert von 600 Euro hat das Entschädigungsgericht die in dieser Höhe von der Klägerin erhobene Klage abgewiesen. Das Ausgangsverfahren sei von unterdurchschnittlicher Bedeutung gewesen und weise eine allenfalls durchschnittliche Schwierigkeit und Komplexität auf. Es sei in 17 Kalendermonaten zu gerichtlicher Inaktivität gekommen. Etwaige während der ersten Corona-Welle in der Zeit zwischen März und Mai 2020 aufgetretene Phasen gerichtlicher Inaktivität im Sitzungsbetrieb oder im allgemeinen Geschäftsstellenablauf seien generell keine dem Gericht zuzurechnenden Verzögerungszeiten, wobei vorliegend ohnehin nur die Monate April und Mai 2020 von Verzögerungen betroffen gewesen seien. Abzüglich der dem Ausgangsgericht für eine Untätigkeitsklage zuzugestehenden Vorbereitungs- und Bedenkzeit von sechs Monaten verbleibe eine Überlänge von elf Monaten. Eine Wiedergutmachung auf andere Weise als Geldentschädigung scheide zwar aus. Wegen der unterdurchschnittlichen Bedeutung des Ausgangsverfahrens und der nicht ersichtlichen Nachteile für die Klägerin sei aber eine Halbierung des gesetzlichen Pauschbetrags angemessen. Die sich danach ergebende Entschädigung von 550 Euro sei durch die bereits gewährte Entschädigung von 800 Euro mehr als erfüllt.

Mit der Revision rügt die Klägerin die Verletzung von § 198 Gerichtsverfassungsgesetz. Die Kosten des Widerspruchsverfahrens seien für sie nicht von unterdurchschnittlicher Bedeutung gewesen, weil sie auf Sozialhilfe angewiesen sei. Sie habe ein Interesse daran gehabt, dass ihr Bevollmächtigter zeitnah eine Vergütung erhalte, weil dieser seine nach erfolgreichem Abschluss des Widerspruchsverfahrens fällig gewordenen Honorarforderungen nicht auf unbestimmte Zeit aufgeschoben hätte. In Zeiten des elektronischen Rechtsverkehrs erschließe sich nicht, weshalb den Gerichten während der ersten Corona-Welle zwischen März und Mai 2020 generell keine Verzögerungszeiten zuzurechnen seien. Schließlich sei auch die Halbierung des Pauschbetrags mangels eines insoweit erforderlichen Ausnahmefalls nicht gerechtfertigt.

Verfahrensgang:
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, L 37 SF 71/22 EK SO

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Terminbericht

Die Revision der Klägerin war unbegründet. Das Entschädigungsgericht hat zu Recht entschieden, dass der Klägerin über die vom Beklagten anerkannten 800 Euro hinaus kein weiterer Anspruch auf Geldentschädigung wegen unangemessener Dauer der vor dem Sozialgericht (Ausgangsgericht) geführten Untätigkeitsklage zusteht.

Das 27 Kalendermonate umfassende Ausgangsverfahren hatte nur eine unterdurchschnittliche Bedeutung bei einer allenfalls durchschnittlichen Schwierigkeit, weil der dortige Beklagte bereits vor Erhebung der Untätigkeitsklage dem materiellen Anspruch der Klägerin entsprochen hatte und eine weitere Belastung nicht ersichtlich war.

Das Ausgangsverfahren hat insgesamt 17 Kalendermonate zu lang gedauert. Weitere Inaktivitätszeiten lagen weder im September 2020, während das Ausgangsgericht eine Stellungnahme der Klägerin zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung abgewartet hat, noch im April und Mai 2020 während der ersten Welle der Corona-Pandemie vor. Gerichtliche Untätigkeit während der ersten Welle der Corona- Pandemie (erster Corona-Lockdown) von März bis Mai 2020 war generell nicht dem staatlichen Verantwortungs- und Einflussbereich und damit auch nicht dem Ausgangsgericht zuzurechnen (siehe hierzu Urteil vom heutigen Tag zu B 10 ÜG 3/23 R).

Als Ergebnis der erforderlichen Gesamtabwägung verbleibt bei elf entschädigungspflichtigen Verzögerungsmonaten für die Klägerin kein weitergehender Anspruch auf Entschädigung in Geld. Denn den 17 Kalendermonaten der Inaktivität sind sechs Monate Vorbereitungs- und Bedenkzeit des Ausgangsgerichts gegenüber zu stellen. Im Regelfall und auch im Fall der Klägerin ist es gerechtfertigt, dem Ausgangsgericht für eine sozialgerichtliche Untätigkeitsklage eine kürzere Vorbereitungs- und Bedenkzeit zuzubilligen als einem sonstigen Hauptsacheverfahren, für das grundsätzlich zwölf Monate angemessen sind. Eine Untätigkeitsklage ist zur Beschleunigung des Verwaltungsverfahrens lediglich darauf gerichtet, eine Verwaltungsentscheidung über einen Antrag auf Vornahme eines Verwaltungsakts oder über einen Widerspruch herbeizuführen. Das Gericht braucht dafür in der Regel weder vertieft zu ermitteln noch materiell-rechtliche Fragestellungen zu klären.

Revisionsrechtlich nicht zu beanstanden ist es schließlich, dass das Entschädigungsgericht den im Gesetz vorgesehenen Pauschbetrag für eine Geldentschädigung von monatlich 100 Euro auf 50 Euro halbiert hat, weil das Ausgangsverfahren für die Klägerin lediglich eine sehr geringe Bedeutung hatte und auch nicht mit greifbaren Nachteilen verbunden war.

Bei elf Monaten der Inaktivität des Ausgangsgerichts verbleibt ein Anspruch auf Geldentschädigung wegen der Überlänge des Ausgangsverfahrens in Höhe von 550 Euro. Diesen hat der Beklagte indes durch seine Entschädigungszahlung von 800 Euro bereits erfüllt.

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