Bundessozialgericht

Verhandlung B 12 BA 5/23 R

Versicherungs- und Beitragsrecht - Sozialversicherungspflicht - Sozialversicherungsfreiheit - Arzt - Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge - Hessen - abhängige Beschäftigung - selbstständige Tätigkeit

Verhandlungstermin 12.06.2024 12:00 Uhr

Terminvorschau

Land Hessen  ./.  Deutsche Rentenversicherung Bund, beigeladen: 1. T. S.
Der beigeladene Arzt schloss mit dem Land Hessen, vertreten durch die Hessische Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge, einen Rahmenvertrag vom September 2015 sowie weitere Folgeverträge. Auf dieser Grundlage übernahm er in der Zeit von Oktober 2015 bis August 2019 hauptsächlich Aufgaben im Bereich der ambulanten Behandlung von in der Einrichtung untergebrachten Personen, vereinzelt auch deren Erstuntersuchung und die Beurteilung von Erstuntersuchungsbefunden und des Infektionsschutzes. Seine Tätigkeiten erfolgten zeitlich jeweils nach Vereinbarung in den Räumlichkeiten der Erstaufnahmeeinrichtung und sollten "freiberuflich" ausgeübt werden. Seine Leistungen rechnete der Beigeladene ausschließlich gegenüber der Erstaufnahmeeinrichtung ab. Nach den Bestimmungen des ursprünglichen Rahmenvertrags stellte die Erstaufnahmeeinrichtung dem Beigeladenen die Arbeitsmittel sowie das zur Durchführung der Sprechstunden erforderliche Hilfspersonal zur Verfügung. Für seine Tätigkeit erhielt er Fallpauschalen, die sich an den Gebührensätzen der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) abzüglich 25 Prozent für die Gestellung der Praxisinfrastruktur orientierten. Später vereinbarten die Vertragsparteien in einem Folgevertrag eine Vergütung nach einem festen Stundensatz. Dabei entfiel die Regelung zur Verpflichtung der Erstaufnahmeeinrichtung, dem Beigeladenen die für die Sprechstunden erforderlichen Räumlichkeiten und Arbeitsmittel sowie Hilfspersonal zur Verfügung zu stellen. Die beklagte Deutsche Rentenversicherung Bund stellte in einem Statusfeststellungsverfahren fest, dass der Beigeladene während seiner Einsätze für die Erstaufnahmeeinrichtung aufgrund Beschäftigung der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung sowie nach dem Recht der Arbeitsförderung unterlegen habe.

Klage und Berufung sind erfolglos geblieben. Nach Auffassung des Landessozialgerichts war der Beigeladene während seiner Einsätze in den Dienstbetrieb der Erstaufnahmeeinrichtung fremdbestimmt eingegliedert gewesen. Die Weisungsgebundenheit des Beigeladenen sei “zur funktionsgerechten, dienenden Teilhabe am Arbeitsprozess“ verfeinert gewesen. Für eine Beschäftigung spreche auch die Vorschrift des § 130 SGB IV zur Beitragsfreiheit von Einnahmen aus Tätigkeiten von Ärztinnen und Ärzten in einem Impfzentrum. Eine Beitragsfreiheit müsse nur angeordnet werden, wenn grundsätzlich eine Versicherungspflicht aufgrund Beschäftigung vorliege. Bei den Tätigkeiten von Ärztinnen und Ärzten in Erstaufnahmeeinrichtungen handele es sich um vergleichbare Tätigkeiten, so dass grundsätzlich von einer Beschäftigung auszugehen sei.

Mit seiner Revision rügt das Land Hessen im Wesentlichen eine Verletzung von § 7 SGB IV. Der Beigeladene sei selbstständig tätig gewesen, weil er über Inhalt, Zeit und Umfang seiner Tätigkeit frei habe bestimmen können. Er habe eigenverantwortlich und weisungsfrei ärztliche Leistungen gegenüber den geflüchteten Menschen erbracht. Eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation der Erstaufnahmeeinrichtung im Sinne eines arbeitsteiligen Zusammenwirkens komme nicht in Betracht, weil es sich bei dieser nicht um eine medizinische Einrichtung gehandelt habe. Die Vergütung des Beigeladenen durch die Erstaufnahmeeinrichtung indiziere keine Eingliederung. Denn die Abrechnung mit Dritten sei im Bereich ärztlicher Leistungen nicht untypisch. Dass für den Einsatz von Ärzten in Erstaufnahmeeinrichtungen keine § 130 SGB IV entsprechende Sondervorschrift erlassen worden sei, lasse den Schluss zu, dass der Gesetzgeber insoweit von einer selbstständigen Tätigkeit ausgegangen sei.

Verfahrensgang:
Sozialgericht Gießen, S 4 BA 13/18, 03.11.2021
Hessisches Landessozialgericht, L 1 BA 18/22, 23.03.2023

Sämtliche Vorschauen zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 20/24.

Terminbericht

Die Revision des Klägers war im Sinne der Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückverweisung der Sache an das Landessozialgericht zur erneuten Verhandlung und Entscheidung erfolgreich. Der Senat konnte nicht abschließend entscheiden, ob der Beigeladene während seiner Einsätze für die Erstaufnahmeeinrichtung aufgrund Beschäftigung in der gesetzlichen Rentenversicherung sowie nach dem Recht der Arbeitsförderung versicherungspflichtig war.

Die Bestimmungen des Rahmenvertrags stützen das vom Landessozialgericht gefundene Ergebnis grundsätzlich. Danach sollte der Beigeladene seine Tätigkeit persönlich in den Räumlichkeiten der Erstaufnahmeeinrichtung durchführen und in die dortige Arbeitsorganisation eingegliedert werden. § 3 des Rahmenvertrags sah insbesondere als Leistung der Erstaufnahmeeinrichtung die Gestellung der Betriebsmittel (Geräte, Inventar, Medikamente et cetera) und des Hilfspersonals für die Sprechstunden vor. In Bezug auf die Durchführung der Erstuntersuchungen verblieb dem Beigeladenen danach kein nennenswerter Freiraum für eine eigene Gestaltung seiner Tätigkeit. Für die Eingliederung spricht auch die vereinbarte Abrechnung allein im Verhältnis zwischen dem Beigeladenen und der Erstaufnahmeeinrichtung.

Der Senat kann anhand der vom Landessozialgericht festgestellten Tatsachen jedoch nicht abschließend beurteilen, ob und inwieweit der Rahmenvertrag auch in der Praxis gelebt oder Vereinbarungen abbedungen wurden. Dem angegriffenen Urteil lässt sich entnehmen, dass der Beigeladene unstrukturierte Arbeitsabläufe und eine unzureichende Infrastruktur vorfand und ihm - wenn überhaupt - Betriebsmittel nur in geringfügigem Umfang zur Verfügung gestellt wurden. Das Landessozialgericht muss im wieder eröffneten Berufungsverfahren daher ermitteln, ob im streitbefangenen Zeitraum am Tätigkeitsort des Beigeladenen tatsächlich eine nennenswerte Organisationsstruktur existiert hat, in die der Beigeladene eingegliedert worden ist, ob der Beigeladene im Rahmen seiner Tätigkeit überhaupt in erheblicher Weise auf Betriebsmittel der Erstaufnahmeeinrichtung zurückgreifen konnte, sowie, ob die Tätigkeit tatsächlich in arbeitsteiligem Zusammenwirken mit deren Beschäftigen verrichtet worden ist. Dabei muss es berücksichtigen, dass der spätere Rahmenfolgevertrag keine Verpflichtung der Erstaufnahmeeinrichtung mehr enthielt, ausgestattete Räumlichkeiten, Sprechstundenbedarf und Hilfspersonal bereitzustellen. Insoweit muss es prüfen, ab wann der Rahmenfolgevertrag zwischen den Beteiligten als maßgeblich vereinbart und inwieweit er in der Praxis gelebt wurde.

Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 20/24.

Hinweis zur Verwendung von Cookies

Wir verwenden ausschließlich Sitzungs-Cookies, die für die einwandfreie Funktion unserer Webseite erforderlich sind. Mit der Nutzung unserer Dienste erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir diese Cookies einsetzen. Unsere Informationen zum Datenschutz erhalten Sie über den Link Datenschutz.

OK