Bundessozialgericht

Verhandlung B 12 BA 8/22 R

Versicherungs- und Beitragsrecht - Sozialversicherungspflicht - Sozialversicherungsfreiheit - Arzt - Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge - Hessen -abhängige Beschäftigung - selbstständige Tätigkeit

Verhandlungstermin 12.06.2024 11:00 Uhr

Terminvorschau

Land Hessen  ./.  Deutsche Rentenversicherung Bund, beigeladen: 1. L. O., 2. Bundesagentur für Arbeit, 3. Techniker Krankenkasse Pflegeversicherung, 4. Techniker Krankenkasse
Der beigeladene Arzt führte auf der Grundlage von zwei mit dem Land Hessen, vertreten durch die Hessische Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge, geschlossenen Rahmenverträgen in der Zeit vom 29. Januar bis zum 15. Juli 2016 Erstuntersuchungen von in der Einrichtung untergebrachten Personen durch und nahm die Beurteilung von Erstuntersuchungsbefunden vor. Die Erstuntersuchungen beinhalteten die Aufnahme und Dokumentation bestehender und die Rezeptur notwendiger Medikation sowie die Anamnese, Diagnostik und Dokumentation einer akut beklagten Erkrankung. Hierbei konnte der Beigeladene auf die von der Erstaufnahmeeinrichtung zur Verfügung gestellten Räumlichkeiten, Geräte, Inventar, Sprechstundenbedarf sowie Medikamente zurückgreifen. Er wurde von deren Beschäftigten (Dolmetscher / ärztliches Hilfspersonal) unterstützt. Die weitere vereinbarte Tätigkeit umfasste die Beurteilung von Erstuntersuchungen und von Röntgenbefunden des Thorax in den Räumlichkeiten der Erstaufnahmeeinrichtung. Der Beigeladene sollte zeitlich nach Vereinbarung auf Stundensatzbasis tätig werden. Vereinbart war, dass keine Eingliederung in die Arbeitsorganisation erfolgen solle. Der Beigeladene rechnete mit der Erstaufnahmeeinrichtung ab. Vorhaltekosten oder Nutzungsentgelte musste er nicht entrichten. Die beklagte Deutsche Rentenversicherung Bund stellte in einem Statusfeststellungsverfahren fest, dass der Beigeladene während seiner Einsätze für die Erstaufnahmeeinrichtung aufgrund Beschäftigung in allen Zweigen der Sozialversicherung versicherungspflichtig gewesen sei.

Klage und Berufung sind erfolglos geblieben. Nach Auffassung des Landessozialgerichts war der Beigeladene während seiner Einsätze in den Dienstbetrieb der Erstaufnahmeeinrichtung fremdbestimmt eingegliedert. Die Weisungsgebundenheit des Beigeladenen sei “zur funktionsgerechten, dienenden Teilhabe am Arbeitsprozess“ verfeinert gewesen. Für eine Beschäftigung spreche auch die Vorschrift des § 130 SGB IV zur Beitragsfreiheit von Einnahmen aus Tätigkeiten von Ärztinnen und Ärzten in einem Impfzentrum. Eine Beitragsfreiheit müsse nur angeordnet werden, wenn grundsätzlich eine Versicherungspflicht aufgrund Beschäftigung vorliege. Bei den Tätigkeiten von Ärztinnen und Ärzten in Erstaufnahmeeinrichtungen handele es sich um vergleichbare Tätigkeiten, so dass grundsätzlich von einer Beschäftigung auszugehen sei.

Mit seiner Revision rügt das Land Hessen im Wesentlichen eine Verletzung von § 7 SGB IV. Der Beigeladene sei selbstständig tätig gewesen, weil er über Inhalt, Zeit und Umfang seiner Tätigkeit frei habe bestimmen können. Er habe eigenverantwortlich und weisungsfrei ärztliche Leistungen gegenüber den geflüchteten Menschen erbracht. Eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation der Erstaufnahmeeinrichtung im Sinne eines arbeitsteiligen Zusammenwirkens komme nicht in Betracht, weil es sich bei dieser nicht um eine medizinische Einrichtung gehandelt habe. Auch die Vergütung des Beigeladenen durch die Erstaufnahmeeinrichtung indiziere keine Eingliederung. Denn die Abrechnung mit Dritten sei im Bereich ärztlicher Leistungen nicht untypisch. Dass für den Einsatz von Ärzten in Erstaufnahmeeinrichtungen keine § 130 SGB IV entsprechende Sondervorschrift erlassen worden sei, lasse den Schluss zu, dass der Gesetzgeber von einer selbstständigen Tätigkeit ausgegangen sei.

Verfahrensgang:
Sozialgericht Gießen, S 17 R 278/17, 02.09.2021
Hessisches Landessozialgericht, L 1 BA 76/21, 12.05.2022

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Terminbericht

Die Revision des Klägers ist erfolglos geblieben. Das Landessozialgericht hat zu Recht entschieden, dass der Beigeladene während seiner Einsätze für die Erstaufnahmeeinrichtung aufgrund Beschäftigung in den Zweigen der Sozialversicherung versicherungspflichtig war. Seine Tätigkeit war nicht als sozialversicherungsfreie ehrenamtliche Tätigkeit zu qualifizieren. Hiergegen spricht schon der vereinbarte Stundenlohn.

Der Beigeladene war während seiner Einsätze in einer seine Tätigkeit prägenden Art und Weise fremdbestimmt in die von der Erstaufnahmeeinrichtung vorgegebenen Arbeitsabläufe und Organisationsstrukturen zur Durchführung, Beurteilung und Dokumentation der Erstuntersuchungen eingegliedert. Er wurde in den Räumlichkeiten der Erstaufnahmeeinrichtung tätig, nutzte unentgeltlich die dort vorhandenen Betriebsmittel und arbeitete mit dem Personal der Erstaufnahmeeinrichtung zusammen. In der Wahl der Patienten und dem Gegenstand der Untersuchungen war er nicht frei. Vielmehr musste er die ihm vorgegeben Befunde erheben, auswerten und dokumentieren. Die Abrechnung der Einsätze erfolgte im Verhältnis zwischen dem Beigeladenen und der Erstaufnahmeeinrichtung. Einer Eingliederung des Beigeladenen in die Arbeitsorganisation der Erstaufnahmeeinrichtung steht nicht entgegen, dass dieser - anders als etwa einem Krankenhaus - kein medizinischer Versorgungsauftrag im Rahmen des öffentlichen Gesundheitswesen zukommt. Die Erstaufnahmeeinrichtung nahm auch Aufgaben der öffentlichen Gesundheitsvorsorge wahr und richtete eine entsprechende Infrastruktur ein, innerhalb derer sie sich des Beigeladenen bediente. Es bestand zwar keine ständige Dienstbereitschaft. Die Feststellung der Versicherungspflicht beschränkte sich deshalb aber auch nur auf die konkreten Einzelaufträge. Angesichts der Vergütung nach Stundensätzen war der Beigeladene weder einem nennenswerten Unternehmerrisiko ausgesetzt noch konnte er durch unternehmerisches Geschick das Verhältnis von Aufwand und Ertrag zu seinen Gunsten beeinflussen. Dass der Beigeladene auch für andere Auftraggeber tätig werden durfte, spricht nicht für seine Selbstständigkeit im Rahmen der vorzunehmenden Betrachtung der Einzelaufträge. Die Vorschriften zur Beitragsfreiheit von Ärzten in Impf- und Testzentren (§§ 130, 131 Sozialgesetzbuch Viertes Buch) kommt keine Indizwirkung für die hier zu beurteilende Versicherungspflicht zu. Auch der Wille der Vertragsparteien hat keine ausschlaggebende Bedeutung.

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