Verhandlung B 2 A 1/22 R
Unfallversicherung - Aufsichtsklage - Dienstwagen - Unfallkasse - private Nutzung - Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit
Verhandlungstermin
27.06.2024 13:00 Uhr
Terminvorschau
Unfallkasse Baden-Württemberg ./. Land Baden-Württemberg
Die klagende Unfallkasse verfügte über eine (überwiegend geleaste) Dienstwagenflotte von 35 Kraftfahrzeugen bei etwa 300 Mitarbeitern. 28 Fahrzeuge waren einzelnen Mitarbeitern fest zugeordnet. Diese durften die Fahrzeuge gegen Kostenerstattung auch privat nutzen. Dadurch erzielte die Klägerin eine hohe Gesamtlaufleistung bei den Dienstfahrzeugen und konnte so die Kilometerkosten teilweise auf unter 0,25 Euro senken.
Bei der Ausschreibung der Stelle eines Abteilungsleiters teilte die Klägerin mit, dass mit der Stelle ein Dienstwagen auch zur privaten Nutzung verbunden sei. Die beklagte Aufsichtsbehörde wies die Klägerin wiederholt und zuletzt in einem aufsichtlichen Beratungsschreiben darauf hin, dass die Ermöglichung der privaten Nutzung von Dienstwagen nicht zu ihren Aufgaben gehöre und gegen den Grundsatz der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit verstoße. Die Aufsichtsbehörde verpflichtete die klagende Unfallkasse sodann unter anderem zur Beendigung der personenbezogenen Zuweisung von Dienstfahrzeugen in 13 Fällen nach Ablauf der individuellen Leasingvertragslaufzeit zugunsten einzelnen Mitarbeitern nicht persönlich zugeordneten Fahrzeugen (Pool-Fahrzeuge). Künftig seien Beschaffungen von Dienstkraftfahrzeugen nur noch dann vorzunehmen, wenn von deren Wirtschaftlichkeit allein unter Zugrundelegung der dienstlichen Laufleistung ausgegangen werden könne. Die Wirtschaftlichkeit bemesse sich grundsätzlich nach der Wegestreckenentschädigung des Landes (0,35 Euro pro Kilometer). Die Klägerin habe ihre Richtlinien zur Haltung und Nutzung von personenbezogenen Dienstfahrzeugen entsprechend zu ändern. Auch der Pool-Fahrzeugbestand sei anzupassen.
Das Landessozialgericht hat die hiergegen erhobene Aufsichtsklage abgewiesen. Mit dem gesetzlichen Aufgabenbereich sei das von der Klägerin gewählte Modell der Überlassung von personenbezogenen Dienstwagen auch zur privaten Nutzung ihrer Beschäftigten nicht zu vereinbaren. Auch der für Sozialversicherungsträger geltende Grundsatz der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit erlaube keine Zuständigkeitsüberschreitung. Die Wirtschaftlichkeit sei zutreffend an reisekostenrechtlichen Bestimmungen ausgerichtet worden, so dass auch die Verpflichtung zur entsprechenden Anpassung des Pool-Fahrzeugbestands nicht zu beanstanden sei.
Mit ihrer Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts (§ 30 SGB IV in Verbindung mit §§ 1, 172 Absatz 1 Nummer 1 SGB VII und § 69 SGB IV).
Verfahrensgang:
Landessozialgericht Baden-Württemberg, L 6 U 2716/20 KL, 29.06.2021
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Terminbericht
Die Revision der Klägerin war erfolgreich. Die Aufsichtsmaßnahme des Beklagten war insgesamt aufzuheben, weil die Ermächtigung (§ 89 Absatz 1 Satz 2 SGB IV) nicht gesetzeskonform ausgeübt wurde. Zwar besteht hinsichtlich der personenbezogenen Fahrzeuge ein Rechtsverstoß der Klägerin, die Aufsichtsmaßnahme leidet insoweit allerdings unter Ermessensfehlern. Hinsichtlich der Pool-Fahrzeuge ist bereits kein Rechtsverstoß der Klägerin ersichtlich.
Hinsichtlich der personenbezogenen Dienstfahrzeuge (Ziffern I bis III der Aufsichtsmaßnahme) liegt ein Rechtsverstoß der Klägerin gegen die Kompetenznorm des § 30 Absatz 1 SGB IV vor. Es überschreitet evident den Aufgabenkreis eines Unfallversicherungsträgers, Mittel dazu einzusetzen, Mitarbeitern bis nahezu der Hälfte der Gesamtnutzung Dienstfahrzeuge zur privaten Nutzung zur Verfügung zu stellen. Ein solcher Einsatz der Mittel dient nicht der Aufgabenerfüllung und ist erst recht nicht dafür (dringend) erforderlich. Unerheblich ist, ob eine solche Verfahrensweise aus einer betriebswirtschaftlichen Sicht vorteilhaft ist. Allein die “Wirtschaftlichkeit“ einer Maßnahme ist nicht kompetenzbegründend.
Hinsichtlich der Poolfahrzeuge (Ziffer IV der Aufsichtsmaßnahme) hat die Klägerin dagegen nicht gegen § 30 Absatz 1 SGB IV verstoßen. Die Poolfahrzeuge sind zur ausschließlich dienstlichen Nutzung bestimmt und dienen damit der Aufgabenerfüllung. Auch der Grundsatz der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit (§ 69 Absatz 2 SGB IV) ist nicht verletzt. Die Klägerin hat den ihr insoweit zustehenden Beurteilungsspielraum im Sinne einer Einschätzungsprärogative nicht überschritten, indem sie Poolfahrzeuge einsetzt, deren Kosten 0,35 Euro/km übersteigen. Anerkannte Bewertungsmaßstäbe, die den Beurteilungsspielraum eines Unfallversicherungsträgers hinsichtlich der Wirtschaftlichkeit von Poolfahrzeugen einschränken, bestehen nicht. Insbesondere sind die Entschädigungssätze im Landesreisekostenrecht kein anerkannter Bewertungsmaßstab für die Frage, bis zu welcher Grenze Poolfahrzeuge noch wirtschaftlich vertretbar sind. Denn die Wegstreckenentschädigung ist lediglich eine pauschalierte Zahlung der dem Dienstreisenden entstandenen Unkosten im Sinne einer Entschädigung dafür, dass er freiwillig sein eigenes Kraftfahrzeug für eine Dienstreise nutzt.
Soweit ein Rechtsverstoß der Klägerin hinsichtlich der personenbezogenen Dienstfahrzeuge feststellbar ist, sind die hiervon betroffenen Verfügungen (Ziffern I bis III) gleichwohl rechtswidrig, weil der Beklagte entgegen der Ermächtigung des § 89 Absatz 1 Satz 2 SGB IV keine Ermessensentscheidung getroffen hat, die insbesondere das Allgemeininteresse an der Gesetzmäßigkeit der Sozialverwaltung und die Interessen des Versicherungsträgers, der Versicherten sowie der öffentlichen Hand berücksichtigt. Stattdessen hat der Beklagte die Klägerin von vornherein auf einen Kilometerpreis von 0,35 Euro als Wirtschaftlichkeitsmaßstab festgelegt.
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