Verhandlung B 2 U 3/22 R
Unfallversicherung - Arbeitsunfall - Schutzimpfung - Schweinegrippe - Impfangebot des Arbeitgebers - betriebliches Interesse
Verhandlungstermin
27.06.2024 10:00 Uhr
Terminvorschau
Th.S. ./. Verwaltungs-Berufsgenossenschaft
Der Kläger war Gastronomieleiter einer Catering‑GmbH, die eine Krankenhausküche betrieb. Das Krankenhaus und die Catering‑GmbH waren Tochterunternehmen einer Unternehmensgruppe der Gesundheits- und Pflegebranche. Die Krankenhausverwaltung bat die Catering‑GmbH, Mitarbeiter zu melden, die beabsichtigten, an einer Schutzimpfung gegen Influenza A/H1N1 (Schweinegrippe) teilzunehmen. Den Impfstoff stelle das Gesundheitsamt kostenlos bereit. Die Teilnahme sei freiwillig; es stehe jedem frei, sich auch vom Hausarzt impfen zu lassen. Impfberechtigt seien alle Mitarbeiter, die im Rahmen ihrer Tätigkeit Patientenkontakt hätten. Der Kläger nahm an der betrieblich organisierten Impfung teil. Jahre später traten Fieberschübe auf, die er auf die Impfung zurückführt.
Die Beklagte lehnte es ab, einen Arbeitsunfall festzustellen, weil Maßnahmen zur Erhaltung der Gesundheit grundsätzlich dem unversicherten Lebensbereich zuzurechnen seien. Das Sozialgericht hat die Klage abgewiesen, das Landessozialgericht die Berufung zurückgewiesen. Der Kläger sei arbeitsrechtlich nicht zur Impfung verpflichtet gewesen. Allein die subjektive Vorstellung, durch die Impfung auch betrieblichen Interessen dienlich zu sein, reiche nicht aus, um Versicherungsschutz zu begründen.
Mit der Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 8 Absatz 1 SGB VII. Mit dem Impfangebot der Arbeitgeberin und dessen Annahme durch den Arbeitnehmer seien wechselseitige Nebenpflichten aus dem Arbeitsverhältnis erfüllt worden. Zumindest habe ein immanenter Druck bestanden, sich als Vorbild für andere Mitarbeiter impfen zu lassen.
Verfahrensgang:
Sozialgericht Koblenz, S 6 U 215/17, 22.07.2020
Landessozialgericht Rheinland-Pfalz, L 2 U 159/20, 06.09.2021
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Terminbericht
Die Revision des Klägers war im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung erfolgreich. Der Senat kann auf Grundlage der Feststellungen des Landessozialgerichts nicht entscheiden, ob die Impfung des Klägers am 9. November 2009 als Arbeitsunfall anzuerkennen ist.
Eine planmäßig und freiwillig durchgeführte Impfung kann ein Unfallereignis sein, wenn sie zu einem Gesundheitserstschaden führt. Ein Unfallereignis erfordert weder Plötzlichkeit noch Unfreiwilligkeit, wie der Senat bereits zur Organspende grundlegend verdeutlicht hat (Urteil vom 15. Mai 2012 - B 2 U 16/11 R). Entsprechend den Besonderheiten einer Impfung muss im Einklang mit dem Impfschadensrecht aber eine Impfkomplikation eingetreten sein. Alle medizinischen Fragen, insbesondere zur Kausalität von Gesundheitsstörungen, sind auf der Grundlage des im Entscheidungszeitpunkt neuesten medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstands bezogen auf den konkret verwendeten Impfstoff zu beantworten.
Hinzukommen muss der innere Zusammenhang der konkreten Impfung mit der versicherten Tätigkeit. Dieser ist nicht schon dann gegeben, wenn die Impfung vom Arbeitgeber empfohlen, finanziert und anschließend im Betrieb durchgeführt wird. Für allgemeine Grippeschutzimpfungen im Betrieb hat der Senat dies bereits entschieden (Urteil vom 31. Januar 1974 - 2 RU 277/73). Ein innerer Zusammenhang kann aber angenommen werden, wenn die Teilnahme an der Impfung wesentlich betrieblichen Zwecken dient. In einem Krankenhaus mit einem gesteigerten Interesse an einem möglichst umfassenden Gesundheitsschutz für Patienten kann dies auch dann der Fall sein, wenn die Impfung aufgrund des Beschäftigungsverhältnisses erforderlich war oder der Beschäftigte dies aufgrund besonderer Umstände berechtigterweise annehmen durfte. Das pandemische Influenzavirus A/H1N1 war erst im Frühjahr 2009 aufgetreten. Die Ständige Impfkommission sah sich am 12. Oktober 2009 zu einer besonderen Impfempfehlung neben der saisonalen Influenza-Impfempfehlung veranlasst, die sich an erster Stelle an alle Beschäftigten in der unmittelbaren Gesundheitsversorgung richtete, darunter neben Ärzten und Pflegepersonal auch andere Beschäftigte mit Patientenkontakt. In Anbetracht der zeitlichen Abläufe, der Neuartigkeit und Dringlichkeit sowie der Übertragungswege ist es nicht ausgeschlossen, dass sich Beschäftigte im Gesundheitswesen in der Akutphase dieser neuartigen Influenza aus ihrem konkreten Beschäftigungsverhältnis heraus zum Schutz der Patienten zur Impfung berechtigt und veranlasst sahen.
Ob dies indes auch beim Kläger der Fall war, konnte der Senat mangels Feststellungen des Landessozialgerichts zu diesen besonderen Umständen und zur Handlungstendenz des Klägers nicht beurteilen. Die fehlenden Feststellungen werden deshalb nachzuholen sein, gegebenenfalls auch zur konkreten Impfung und einem dadurch wesentlich verursachten Gesundheitserstschaden.
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