Bundessozialgericht

Verhandlung B 7 AS 3/23 R

Grundsicherung für Arbeitsuchende - Drittstaatsangehöriger - Besuchsvisum - Leistungsausschluss

Verhandlungstermin 17.07.2024 13:00 Uhr

Terminvorschau

1. O. A., 2. K. A., 3. K. A. ./. Jobcenter Berlin Neukölln
Streitig sind Ansprüche der Klägerin zu 1 und ihrer beiden minderjährigen Kinder, der Kläger zu 2 und 3, auf Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II ab dem 20. Oktober bis zum 21. Dezember 2014 im Rahmen eines Zugunstenverfahrens. Die Kläger sind tunesische Staatsangehörige.

Dem Ehemann und Vater der Kläger - ebenfalls tunesischer Staatsangehöriger - wurde 1999 zunächst eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis und 2008 gemäß § 28 Absatz 2 Aufenthaltsgesetz eine unbefristete Niederlassungserlaubnis in Deutschland erteilt. In den hier streitigen Monaten ging er weder einer selbständigen Tätigkeit noch einer abhängigen Beschäftigung nach. Das beklagte Jobcenter gewährte ihm - wie schon zuvor - ab November 2014 weiterhin Arbeitslosengeld II.

Die Kläger waren am 20. Oktober 2014 mit einem Besuchsvisum aus Tunesien eingereist. Am 9. Februar 2015 gebar die Klägerin zu 1 ein weiteres gemeinsames Kind, das die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Den Antrag auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende der drei Kläger lehnte der Beklagte - mit bestandskräftigem Bescheid - zunächst mit der Begründung ab, sie seien als tunesische Staatsangehörige nach § 7 Absatz 1 Satz 2 Nummer 1 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Nachdem die Ausländerbehörde am 22. Dezember 2014 eine bis zum 21. März 2015 geltende Fiktionsbescheinigung nach § 81 Absatz 3 Satz 1 Aufenthaltsgesetz für die Kläger ausgestellt hatte, bewilligte der Beklagte ihnen Leistungen ab diesem Zeitpunkt. Der Antrag der Kläger auf Überprüfung des ablehnenden Bescheides für den Zeitraum vom 20. Oktober bis 21. Dezember 2014 blieb erfolglos.

Das Sozialgericht hat den Beklagten verurteilt, den Klägern unter Rücknahme des anfänglichen Ablehnungsbescheides für den streitigen Zeitraum Leistungen nach dem SGB Il zu gewähren. Die Kläger seien zum Zwecke des Familiennachzugs eingereist. Auf die Berufung des Beklagten hat das Landessozialgericht das Urteil des Sozialgerichts aufgehoben und die Klage abgewiesen. Die Kläger hätten keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II in der Zeit vom 20. Oktober bis zum 21. Dezember 2014. Sie unterlägen dem Leistungsausschluss des § 7 Absatz 1 Satz 2 Nummer 1 SGB II. Dieser sei nicht einschränkend dahingehend zu verstehen, dass die Kläger hiervon nicht erfasst seien.

Mit ihren vom Landessozialgericht zugelassenen Revisionen rügen die Kläger die Verletzung von § 7 SGB II.

Verfahrensgang:
Sozialgericht Berlin, S 117 AS 3604/15, 09.12.2019
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, L 3 AS 50/20, 13.12.2022

Sämtliche Vorschauen zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 26/24.

Terminbericht

Die Kläger konnten mit ihren Revisionen durchdringen. Der Senat hat das Urteil des Landessozialgerichts aufgehoben und die Berufung des Beklagten hiergegen zurückgewiesen. Die Kläger haben einen Anspruch auf Sozialgeld auch für die Zeit vom 20. Oktober bis 21. Dezember 2014. Insoweit hat der Beklagte Leistungen und eine die Kläger begünstigende Entscheidung im Überprüfungsverfahren nach § 44 SGB X zu Unrecht abgelehnt.

Die Kläger waren im streitigen Zeitraum leistungsberechtigt nach dem SGB II. Zwar waren sie aus rechtlichen Gründen nicht erwerbsfähig. Sie bildeten jedoch mit dem Ehemann und Vater eine Bedarfsgemeinschaft, der ihnen “als deren Kopf“ Ansprüche auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach § 7 Absatz 2 SGB II vermittelte.

Der in § 7 Absatz 1 Satz 2 Nummer 1 SGB II normierte Leistungsausschluss fand im streitigen Zeitraum keine Anwendung auf die Kläger. Danach erhalten Ausländerinnen und Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbständige noch auf Grund des § 2 Absatz 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts keine Leistungen nach dem SGB II. Die Kläger sind nach dem Wortlaut des § 7 Absatz 1 Satz 2 Nummer 1 SGB II, dessen systematischer Stellung innerhalb des Absatz 1 in Verbindung mit Absatz 2 sowie dem Sinn und Zweck des Leistungsausschlusses schon vom Anwendungsbereich der zitierten Norm nicht erfasst. Betroffen sind von der Vorschrift zuvörderst erwerbsfähige Ausländer und erst im Verhältnis zu diesen - gleichsam im Nachgang - deren Familienmitglieder. Vorliegend sind die Kläger jedoch nicht erwerbsfähig. Auch sind sie nicht Familienangehörige einer ausgeschlossenen erwerbsfähigen Person. Vielmehr erhält der Ehemann und Vater Leistungen nach dem SGB II; er ist ein leistungsberechtigter Ausländer.

Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 26/24.

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