Verhandlung B 7 AS 7/23 R
Grundsicherung für Arbeitsuchende - Mehrfamilienhaus - Miteigentum - Verwertbarkeit - Zumutbarkeit - Nutzungsentschädigung - Einkommen aus Vermietung - Tilgungsleistung als Absetzbetrag - Betriebskostenvorauszahlungen als Einkommen
Verhandlungstermin
17.07.2024 11:30 Uhr
Terminvorschau
M. S. ./. Jobcenter Stadt Gera
Im Streit ist ein Anspruch auf höheres Arbeitslosengeld II für Juli bis Dezember 2017.
Die Klägerin und ihr Ehemann (E) sind seit 2015 geschieden. Gemeinsam sind sie Miteigentümer eines Mehrfamilienhauses mit insgesamt drei Wohnungen (Gesamtwohnfläche 260 qm). Eine Wohnung (mit 80 qm Wohnfläche) bewohnte die Klägerin im streitigen Zeitraum alleine. Zur Finanzierung des Hauses hatte die (Noch)Eheleute gesamtschuldnerisch Darlehen aufgenommen und über verschiedene Bausparverträge abgesichert. Sämtliche Einnahmen und Auszahlungen für das Haus liefen auf ein separates Konto.
E verpflichtete sich nach der Scheidung, die anfallenden Zins- und Tilgungsleistungen samt fester Kosten zu tragen. Mit den Verbrauchskosten und einer Entschädigung für die von ihr genutzte Wohnung in Höhe von 550 Euro sollte die Klägerin belastet bleiben. Vergleichsweise wurde gerichtlich vereinbart, die Mieteinnahmen zur Begleichung der Finanzierungslasten und der Nebenkosten zu verwenden. Überschüsse sollten zur Ansparung eines Bausparvertrags verwendet werden, damit die Immobilie 2022 schuldenfrei gestellt werden könne. Beide Eheleute verzichteten auf die Beantragung einer Teilungsversteigerung. Tatsächlich zahlte die Klägerin die vereinbarte Nutzungsentschädigung nicht.
Das beklagte Jobcenter bewilligte der Klägerin für die Zeit von Juli bis Dezember 2017 zunächst vorläufig Leistungen. In der abschließenden Entscheidung legte er die Hälfte der Kaltmieteinnahmen abzüglich 10 % Instandhaltungspauschale als Einkommen der Klägerin zugrunde. Als Unterkunftsbedarf wurden Schuldzinsen, 1/5 der kalten Betriebskosten sowie anteilige Heizkosten berücksichtigt.
Das Sozialgericht hat den Beklagten verurteilt, für Juli bis Dezember 2017 weitere 1354,13 Euro an die Klägerin zu zahlen. Das Landessozialgericht hat auf die Berufung der Klägerin das Urteil des Sozialgerichts geändert und den Beklagten unter Abänderung der angefochtenen Bescheide und Zurückweisung der Berufung der Klägerin im Übrigen verurteilt, weitere monatliche Leistungen für Juli bis Oktober 2017 zu zahlen. Die Berufung des Beklagten hat es zurückgewiesen. Vermögen stehe der Leistungsberechtigung der Klägerin nicht entgegen. Bei einem Verkauf des Hauses verblieben nach Aussage des Zeugen E nach Abzug sämtlicher Kosten 40.000 Euro Schulden, sodass ein Fall der faktischen Überschuldung vorliege. Des Weiteren bestünden Zweifel hinsichtlich der Verwertbarkeit beziehungsweise der Zumutbarkeit der Verwertung des Hauses. Als Unterkunftsbedarf seien nicht die begehrten 550 Euro Nutzungsentschädigung zu berücksichtigen, da die Klägerin als Miteigentümerin auch ohne Mietvertrag zur Nutzung der Wohnung berechtigt sei. Auch die "Kaltmiete" von 400 Euro begründe keinen zu deckenden Bedarf. Es sei bereits zweifelhaft, ob die Klägerin einer ernsthaften Forderung ausgesetzt sei. Als Bedarf für Unterkunft zu berücksichtigen seien nur Schuldzinsen, keine Tilgungsraten und Nebenkosten. Als Einkommen der Klägerin seien im Wege der Durchschnittseinkommensbildung die hälftigen Einnahmen aus Vermietung in Höhe der Kaltmiete anzurechnen. Bei den Betriebskostenvorauszahlungen handele es sich um bloße Durchlaufposten, sie seien nicht als Einkommen zu werten. Vom Einkommen abzusetzen seien neben den Schuldzinsen auch die Tilgungsraten, soweit sie nicht auf das Eigentum der Klägerin entfielen. Dabei handle es sich um Aufwendungen, die zum Erwerb des Hauseigentums und damit auch der vermieteten Wohnungen notwendig seien.
Mit seiner vom Landessozialgericht zugelassenen Revision rügt der Beklagte sinngemäß eine Verletzung des § 22 SGB II. Als Bruttoeinkommen zu berücksichtigen seien neben der Miete auch die Betriebskostenvorauszahlungen. Die Berücksichtigung von Tilgungsleistungen als Absetzposten vom Einkommen sei abzulehnen, denn diese führe zumindest mittelbar zum Vermögensaufbau.
Verfahrensgang:
Sozialgericht Altenburg, S 40 AS 2832/17, 11.11.2019
Thüringer Landessozialgericht, L 7 AS 1428/19, 08.02.2023
Sämtliche Vorschauen zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 26/24.
Terminbericht
Die Revision des Beklagten war im Sinne der Aufhebung der Entscheidung des Landessozialgerichts und Zurückverweisung an dieses Gericht zur erneuten Verhandlung und Entscheidung erfolgreich. Der Senat vermochte nicht zu entscheiden, ob der Klägerin im streitigen Zeitraum abschließend höheres Arbeitslosengeld II zusteht. Der Senat konnte auf Grundlage der Feststellungen des Landessozialgerichts schon nicht über die Hilfebedürftigkeit der Klägerin befinden.
Auf der “Bedarfsseite“ ist offen geblieben, welche Aufwendungen für Unterkunft und Heizung die Klägerin getätigt hat. Nach § 22 Absatz 1 SGB II werden diese Bedarfe in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen anerkannt. Ausgangspunkt der Bewertung ist mithin, dass nur tatsächliche beziehungsweise ernsthaft geschuldete Aufwendungen als Bedarf gedeckt werden. Solche vermochte der Senat nicht zu erkennen. Nach dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen des Landessozialgerichts muss davon ausgegangen werden, dass die Klägerin weder Miete noch eine Nutzungsentschädigung für die von ihr bewohnten Räume in dem mit dem geschiedenen Ehemann (E) im gemeinschaftlichen Eigentum stehenden Dreifamilienhaus gezahlt hat. Ebenso wenig steht fest, dass die Klägerin auf die zur Finanzierung dieses Hauses aufgenommenen Darlehen Schuldzinsen oder eine Darlehenstilgung geleistet hat. Nichts anderes gilt im Hinblick auf von ihr gegebenenfalls gezahlte Betriebskosten.
Ob das Dreifamilienhaus als zu berücksichtigendes Vermögen einem Leistungsanspruch nach dem SGB II entgegensteht, bleibt nach den Feststellungen des Landessozialgerichts ebenfalls offen. Grundsätzlich schützt § 12 Absatz 3 Satz 1 Nummer 4 SGB II alte Fassung nur selbstbewohnte Hausgrundstücke von angemessener Größe vor dem Verwertungszwang zur eigenen Existenzsicherung. Die Unangemessenheit der Größe des Hauses ist hier mit 260 qm unzweifelhaft. Insoweit ist das gesamte Haus und nicht nur der selbst bewohnte Teil - hier 80 qm - in die Bewertung einzubeziehen. Denn es ist durch die Vermietung eines Teils des Hauses nicht die Verwertung, sondern nur die Nutzung eingeschränkt. Ein Hausgrundstück ist nicht wegen seines Wertes oder Ertrags von der Verwertbarkeit ausgenommen, sondern wegen seiner Funktion der Sicherung des existenziellen Grundbedürfnisses “Wohnen“ als räumlichem Lebensmittelpunkt.
Vermögensschützend könnten sich allenfalls die offensichtliche Unwirtschaftlichkeit der Verwertung nach § 12 Absatz 3 Satz 1 Nummer 6 1. Alternative SGB II alte Fassung oder die besondere Härte, die in der Verwertung liegen könnte, nach § 12 Absatz 3 Satz 1 Nummer 6 2. Alternative SGB II alte Fassung auswirken. Zur Frage der Wirtschaftlichkeit der Verwertung des Hauses mangelt es an Feststellungen des Landessozialgerichts. Allein die Angabe des E, nach einem Verkauf verblieben 40.000 Euro Schulden, ersetzt eine solche Prüfung nicht. Anhaltspunkte für das Vorliegen einer besonderen Härte sind nach den Gesamtfeststellungen des Landessozialgerichts nicht erkennbar.
Der Ausschluss der Teilungsversteigerung, wie ihn die Eheleute vor dem Familiengericht erklärt haben, schließt für sich genommen auch eine Verwertung aus rechtlichen Gründen nicht aus. Zumindest wenn ein wichtiger Grund für die Kündigung der Teilhaberschaft an der Bruchteilsgemeinschaft vorliegt, der es einem Teilhaber unzumutbar macht, die Gemeinschaft fortzusetzen, könnte diese aufgehoben werden. Ob das Erfordernis der Verwertung zur Existenzsicherung ein solcher wichtiger Grund ist, kann hier offen bleiben, denn die Teilungsversteigerung ist nur eine Art der Verwertung. Einem einvernehmlichen Verkauf stünde der wirksame Ausschluss der Teilungsversteigerung ohnedies nicht entgegen. Inwieweit zudem die Bausparverträge zu berücksichtigendes Vermögen darstellen, ist vom Landessozialgericht ebenfalls nicht festgestellt worden.
Auch ob die Klägerin Einkommen aus Mieteinnahmen erzielt hat, bleibt offen. Zu deren tatsächlichem Zufluss fehlt es an Feststellungen. Der Umstand, dass die Klägerin Miteigentümerin des Hausgrundstücks ist und gegebenenfalls einen Anspruch auf die anteiligen Einnahmen hat, ändert hieran nichts. Die Betriebskostenvorauszahlungen der Mieter sind jedenfalls nicht als Einkommen der Klägerin zu berücksichtigen - sie sind ein reiner “Durchlaufposten“. Sollten Mieteinnahmen der Klägerin als Einkommen zuzurechnen sein, wären hiervon die gesetzlichen Absetzungen - insbesondere die mit der Erzielung des Einkommens verbundenen notwendigen Ausgaben nach § 11b Absatz 1 Satz 1 Nummer 5 SGB II - vorzunehmen. Nach den Feststellungen des Landessozialgerichts trägt allerdings E die gesamten Finanzierungslasten des Hausgrundstücks, also auch der vermieteten Wohnungen. Daher spricht schon nichts dafür, dass bei der Klägerin überhaupt Aufwendungen (Zahlungen auf Zins und Tilgung) anfallen. Anderenfalls stünden Schuldzinsen und Tilgungsleistungen auf die zur Finanzierung des Hausgrundstücks aufgenommenen Darlehen zwar in einer Beziehung zu den aus den vermieteten Wohnungen erzielten Mieteinnahmen. Unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck der Leistungen des SGB II, die der Sicherung der Existenz durch die Deckung des aktuellen Bedarfs dienen, wären jedenfalls Tilgungsleistungen nicht als notwendige Aufwendung zur Erzielung des Einkommens anzusehen. Tilgungsleistungen dienten auch hier allein der Vermögensmehrung.
Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 26/24.