Bundessozialgericht

Verhandlung B 5 R 15/22 R

Rentenversicherung - Arbeitslosenversicherung - Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben - versicherungsrechtliche Voraussetzungen - Werkstatt für behinderte Menschen - Erwerbsminderungsrente - Erstattungsanspruch

Verhandlungstermin 08.08.2024 11:00 Uhr

Terminvorschau

In allen Verfahren B 5 R 15/22 R, B 5 R 18/22 R, B 5 R 6/23 R, B 5 R 7/23 R und B 5 R 8/23 R verlangt die Klägerin als leistender Rehabilitationsträger vom beklagten Rentenversicherungsträger Erstattung der Kosten, die sie für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben im Eingangsverfahren und im Berufsbildungsbereich einer Werkstatt für behinderte Menschen aufgewendet hat.

Bundesagentur für Arbeit  ./.  DRV Mitteldeutschland
Der Versicherte beantragte die Leistungen am 9. November 2015 bei der Beklagten. Diese leitete den Antrag innerhalb von zwei Wochen an die Klägerin weiter, die sich gegenüber dem Versicherten für zuständig erklärte. Der Versicherte absolvierte von August 2016 bis Oktober 2018 zu ihren Lasten das Eingangsverfahren und den Berufsbildungsbereich in einer Werkstatt für behinderte Menschen. Nach einem gerichtlichen Vergleich vom 26. Juli 2017 gewährte die Beklagte dem Versicherten ausgehend von einem Leistungsfall im November 2011 eine befristete Rente wegen voller Erwerbsminderung für Juni 2013 bis Mai 2019. Das Erstattungsverlangen der Klägerin als zweitangegangener Träger wies sie zurück.

Das Sozialgericht hat die Beklagte zur Erstattung von 47 440,13 Euro verurteilt. Die dagegen eingelegte Berufung der Beklagten ist erfolgreich gewesen. Die Beklagte sei für die streitbefangenen Leistungen nicht zuständig gewesen, weil die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für Teilhabeleistungen des Rentenversicherungs-trägers nicht erfüllt seien. Mit der Voraussetzung, dass bei Antragstellung eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit bezogen wird, werde ein tatsächlicher Rentenbezug im Zeitpunkt der Antragstellung auf Leistungen zur Teilhabe gefordert. Nicht ausreichend sei es, wenn sämtliche Anspruchsvoraussetzungen für die Rente erfüllt seien und lediglich der Rentenbescheid noch ausstehe. Auch die alternative Voraussetzung, dass ohne die Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit zu leisten wäre, sei nicht erfüllt. Hierfür sei eine Prognose erforderlich, dass der Betroffene durch die Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben voraussichtlich zu einer Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt befähigt werden kann. Dies sei bei dem Versicherten nicht der Fall gewesen.

Mit ihrer Revision rügt die Klägerin unter anderem eine Verletzung von § 11 Absatz 1 Nummer 2 und Absatz 2a Nummer 1 SGB VI. Der Versicherte habe bei Stellung des Reha-Antrags eine Rente bezogen im Sinne des § 11 Absatz 1 Nummer 2 SGB VI, weil die Beklagte ihm rückwirkend eine Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit gewährt habe. Die Zuständigkeit des Rentenversicherungsträgers für Teilhabeleistungen dürfe nicht von der Dauer des Verwaltungs- oder Rechtsbehelfsverfahrens abhängen. Ungeachtet dessen ergebe sich die Zuständigkeit der Beklagten aus § 11 Absatz 2a Nummer 1 SGB VI, weil dem Versicherten bereits vor der (rückwirkenden) Rentenbewilligung die Berentung unmittelbar gedroht habe. Der Gesetzgeber habe mit dieser Regelung Lücken in der Zuständigkeit der Rentenversicherung schließen wollen. Auf eine positive Prognose für eine Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt komme es nicht an.

Verfahrensgang:
Sozialgericht Nürnberg, S 4 R 360/20, 08.03.2021
Bayerisches Landessozialgericht, L 14 R 184/21, 07.07.2022

Sämtliche Vorschauen zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 28/24.

Terminbericht

Die Revision ist erfolglos geblieben. Die Klägerin hat keinen Erstattungsanspruch gegen die Beklagte aus § 14 Absatz 4 Satz 1 SGB IX in der bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung, der hierfür als einzige Rechtsgrundlage in Betracht kommt. Die Beklagte war für die Erbringung der streitbefangenen Teilhabeleistungen jenseits der Regelung des § 14 Absatz 2 Satz 3 SGB IX alte Fassung nicht zuständig. Beim Versicherten waren die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben zu Lasten der gesetzlichen Rentenversicherung nicht gegeben.

Es lag kein Fall des § 11 Absatz 1 Nummer 2 SGB VI vor. Der Versicherte bezog noch keine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, als er im November 2015 Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben beantragte. Nichts Abweichendes folgt daraus, dass die Beklagte ihm eine solche Rente im August 2017 rückwirkend bewilligte. Die rückwirkende Bewilligung einer Erwerbsminderungsrente lässt keinen Fall des Absatz 1 Nummer 2 entstehen. Das legt bereits die Gesetzesformulierung nahe sowie der Zusammenhang mit den Regelungen in Absatz 2 Satz 1 Nummer 3 und Absatz 2a Nummer 1, die ansonsten weitestgehend entbehrlich wären. Auch die Gesetzgebungsgeschichte spricht dafür, den Personenkreis in Absatz 1 Nummer 2 auf Versicherte zu beschränken, die bei Beantragung der Teilhabeleistungen bereits eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit tatsächlich beziehen.  

Ebenso wenig lag ein Fall des § 11 Absatz 2a Nummer 1 SGB VI vor. Zwar hätte der Versicherte zu dem Zeitpunkt, zu dem er Teilhabeleistungen beantragte, bereits eine Erwerbsminderungsrente von der Beklagten beanspruchen können. Zur Erfüllung der Voraussetzungen des Absatz 2a Nummer 1 ist es darüber hinaus jedoch erforderlich, dass der betroffene Versicherte durch die beantragten Teilhabeleistungen voraussichtlich zu einer Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt (wieder) befähigt werden beziehungsweise diese Befähigung bei ihm voraussichtlich erhalten werden kann. Das ergibt eine Auslegung des Merkmals “ohne diese Leistung“, das andernfalls ohne Inhalt bliebe. Dass die beantragte Teilhabeleistung eine Rentenleistung voraussichtlich vermeidet, entspricht insbesondere dem Regelungsziel des Absatz 2a Nummer 1. Zwar wurde hierdurch die Zuständigkeit der Rentenversicherungsträger für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben über die Fälle des Absatz 1 hinaus erweitert. Den Gesetzesmaterialien ist allerdings zu entnehmen, dass die erweiterte (Finanzierungs-) Zuständigkeit der Rentenversicherungsträger nur in Konstellationen bestehen sollte, in denen die vorrangig vor einer Rente zu erbringenden beruflichen Teilhabeleistungen eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit mit ausreichender Wahrscheinlichkeit verhindern können.

Handelt es sich, wie hier, um Teilhabeleistungen in einer Werkstatt für behinderte Menschen, verlangt dies, dass das Leistungsvermögen prognostisch so weit gebessert werden kann, dass der Betroffene auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, also außerhalb des Werkstattbereichs, erwerbstätig sein kann. Dies hat der Senat bereits für den Bereich der medizinischen Rehabilitation entschieden sowie für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nach § 11 Absatz 2a Nummer 2 SGB VI. Der Senat überträgt diese Rechtsprechung auf die Fälle des § 11 Absatz 2a Nummer 1 SGB VI. Die Feststellungen des Landessozialgerichts tragen dessen Beurteilung, dass beim hier betroffenen Versicherten bereits im Zeitpunkt des Antrags auf Teilhabeleistungen und seitdem durchgehend bis zum Maßnahmebeginn nicht die Prognose gestellt werden konnte, seine Erwerbsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt lasse sich mithilfe von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben wahrscheinlich wiederherstellen.

Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 28/24.

Hinweis zur Verwendung von Cookies

Wir verwenden ausschließlich Sitzungs-Cookies, die für die einwandfreie Funktion unserer Webseite erforderlich sind. Mit der Nutzung unserer Dienste erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir diese Cookies einsetzen. Unsere Informationen zum Datenschutz erhalten Sie über den Link Datenschutz.

OK