Verhandlung B 3 KR 22/22 R
Krankenversicherung - Nutzenbewertung - Fertigarzneimittel - Soolantra® - Zusatznutzen - Vergleichstherapie - neuer Wirkstoff - Unterlagenschutz - Europäische Union
Verhandlungstermin
05.09.2024 11:30 Uhr
Terminvorschau
G. L. GmbH ./. Gemeinsamer Bundesausschuss
Im Streit steht die Nutzenbewertung des Arzneimittels Soolantra®.
Die Klägerin ist ein pharmazeutischer Unternehmer und vertreibt seit dem 1. Juni 2015 das Fertigarzneimittel Soolantra® mit dem Wirkstoff Ivermectin in Deutschland. Dieses wurde in Deutschland vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte am 29. April 2015 zur topischen Behandlung von Hauterkrankungen (entzündliche Läsionen der <papulopustulösen> Rosazea) bei Erwachsenen zugelassen, unterlag der Verschreibungspflicht und erhielt Unterlagenschutz.
Zuvor war mit dem Arzneimittel Stromectol® erstmals ein Humanarzneimittel mit dem Wirkstoff Ivermectin 1999 in Frankreich zur Behandlung unter anderem der Krätze zugelassen worden und 2003 in den Niederlanden.
Der beklagte Gemeinsame Bundesausschuss forderte die Klägerin zur Einreichung eines Dossiers auf, weil der Wirkstoff Ivermectin erstmals in Deutschland in einem Arzneimittel in den Verkehr gebracht werde. Der Beklagte beschloss, nachdem die Klägerin kein Dossier eingereicht hatte, eine Änderung der Arzneimittel-Richtlinie Anlage XII. Nach dieser gilt nach § 35a Absatz 1 Satz 5 SGB V ein Zusatznutzen für Soolantra® gegenüber der zweckmäßigen Vergleichstherapie als nicht belegt. Nachfolgend einigten sich die Klägerin und der GKV-Spitzenverband auf eine Erstattungsbetragsvereinbarung nach § 130b SGB V für Soolantra®. Die Klägerin hielt gleichwohl an ihrem Rechtsstandpunkt fest, dass die gesetzlichen Voraussetzungen einer Vereinbarung nicht gegeben seien.
Bereits vor dem Zustandekommen dieser Vereinbarung hatte die Klägerin gegen den Gemeinsamen Bundesausschuss Klage auf Feststellung der Unwirksamkeit des Nutzenbewertungsbeschlusses erhoben und sich darauf berufen, dass der Wirkstoff Ivermectin nicht dem Nutzenbewertungsverfahren nach § 35a Absatz 1 SGB V unterliege. Das Landessozialgericht wies die Klage als unzulässig ab, weil sie nach § 35a Absatz 8 Satz 1 SGB V ausgeschlossen sei (Urteil im Verfahren L 1 KR 558/15 KL). Auf die von ihm zugelassene Revision der Klägerin hob der Senat dieses Urteil auf, weil das Landessozialgericht die Klage zu Unrecht als unzulässig abgewiesen habe, und wies die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurück (Urteil im Verfahren B 3 KR 11/19 R).
Das Landessozialgericht hat nach Zurückverweisung die Klage abgewiesen: Der Beklagte habe das Arzneimittel Soolantra® zu Recht einer Nutzenbewertung unterzogen. In Deutschland sei es als erstes Arzneimittel mit dem Wirkstoff Ivermectin 2015 in den Verkehr gebracht worden. Ein Unterlagenschutz sei zuvor nicht abgelaufen gewesen, weil diesen im vorliegenden Regelungszusammenhang nur in oder für Deutschland zugelassene und erstattungsfähige Arzneimittel vermitteln könnten, nicht aber in nur einem Mitgliedstaat der Europäischen Union zugelassene Arzneimittel. 2015 sei Ivermectin ein neuer Wirkstoff gewesen, weil das Arzneimittel Soolantra® auf einer neuen Wirkung eines bekannten Wirkstoffs beruhe.
Mit ihrer vom Landessozialgericht zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung insbesondere von § 35a Absatz 1 Satz 1 SGB V in Verbindung mit § 3 Absatz 1 Nummer 1, § 2 Absatz 1 AM-NutzenV. Der von ihr mit Soolantra® erstmals in Deutschland in den Verkehr gebrachte Wirkstoff Ivermectin sei 2015 kein neuer Wirkstoff mehr gewesen, nachdem der europarechtlich harmonisierte Unterlagenschutz des 1999 in Frankreich erstmalig zugelassenen Arzneimittels mit Ivermectin nach zehn Jahren bereits abgelaufen gewesen sei. Produkt- statt wirkstoffbezogene Neuheitsaspekte könnten eine obligatorische Nutzenbewertung nicht begründen. Die unrechtmäßige Einbeziehung von Soolantra® in die Nutzenbewertung verletze die Klägerin in ihren Rechten. Zudem rügt sie als Verfahrensmangel eine Überraschungsentscheidung des Landessozialgerichts.
Verfahrensgang:
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, L 1 KR 438/20 KL ZVW, 09.11.2022
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Terminbericht
Die Revision der Klägerin war erfolgreich. Der Nutzenbewertungsbeschluss des beklagten Gemeinsamen Bundesausschusses ist schon deshalb rechtswidrig und unwirksam, weil mangels Neuheit des Wirkstoffs Ivermectin über eine Nutzenbewertung des Arzneimittels Soolantra® nicht zu beschließen war.
Ausgehend von den einschlägigen Rechtsgrundlagen im Gesetz und in der AM-NutzenV hat der Gemeinsame Bundesausschuss mit seinem Nutzenbewertungsbeschluss den ihm als Normgeber zustehenden Gestaltungsspielraum überschritten. Soolantra® gehört weder nach § 35a Absatz 1 SGB V noch nach der AM-NutzenV zu den Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen, die der obligatorischen Nutzenbewertung unterliegen. Es ist zwar ein erstattungsfähiges Arzneimittel, aber keines mit einem neuen Wirkstoff im Sinne des § 35a Absatz 1 Satz 1 SGB V und § 3 Nummer 1 AM-NutzenV, denn der Wirkstoff Ivermectin dieses Arzneimittels ist nicht in diesem Sinne neu, sondern war bei der Zulassung von Soolantra® bekannt.
Den im Gesetz nicht definierten Begriff der Neuheit bestimmt § 2 Absatz 1 AM-NutzenV ermächtigungskonform näher: Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen im Sinne der AM-NutzenV sind Arzneimittel, die Wirkstoffe enthalten, deren Wirkungen bei der erstmaligen Zulassung in der medizinischen Wissenschaft nicht allgemein bekannt sind (Satz 1); ein Arzneimittel mit einem neuen Wirkstoff im Sinne der AM-NutzenV gilt solange als ein Arzneimittel mit einem neuen Wirkstoff, wie für das erstmalig zugelassene Arzneimittel mit dem Wirkstoff Unterlagenschutz besteht (Satz 2).
Die Wirkungen des Wirkstoffs Ivermectin waren im Sinne des § 2 Absatz 1 Satz 1 AM-NutzenV bei der erstmaligen Zulassung eines Humanarzneimittels mit diesem Wirkstoff in der medizinischen Wissenschaft nicht allgemein bekannt und der Wirkstoff war in diesem Sinne neu. Abzustellen ist hierfür auf die erstmalige Zulassung des Arzneimittels Stromectol® mit dem Wirkstoff Ivermectin 1999 in Frankreich, nicht auf die Zulassung von Soolantra® 2015 in Deutschland. § 2 Absatz 1 Satz 1 AM-NutzenV bezieht sich nach seinem Wortlaut auf die Wirkungen von in Arzneimitteln enthaltenen Wirkstoffen bei der erstmaligen Zulassung eines Arzneimittels mit einem neuen Wirkstoff, nicht explizit bei seiner erstmaligen Zulassung in oder für Deutschland. Ein Arzneimittel mit dem Wirkstoff Ivermectin galt nach § 2 Absatz 1 Satz 2 AM-NutzenV solange als ein Arzneimittel mit einem neuen Wirkstoff, wie für das erstmalig zugelassene Arzneimittel mit dem Wirkstoff Unterlagenschutz bestand. Abzustellen ist auch hierfür auf die erstmalige Zulassung des Arzneimittels Stromectol® mit dem Wirkstoff Ivermectin 1999 in Frankreich, nicht auf die Zulassung von Soolantra® 2015 in Deutschland, die eine neue Zulassung mit neuem Unterlagenschutz begründete. Auch § 2 Absatz 1 Satz 2 AM-NutzenV bezieht sich sowohl nach seinem Wortlaut als auch seinem systematischen Zusammenhang mit § 2 Absatz 1 Satz 1 AM-NutzenV nur auf die erstmalige Zulassung eines Arzneimittels mit einem neuen Wirkstoff, nicht auf seine erstmalige Zulassung in oder für Deutschland.
Angeknüpft ist mit dem für die Neuheit im Sinne der Nutzenbewertung zentralen Begriff “Unterlagenschutz“ in § 2 Absatz 1 Satz 2 AM-NutzenV vielmehr an den europarechtlich determinierten Begriff des Unterlagenschutzes. Aus dieser Anknüpfung folgt rechtssystematisch, dass es für § 2 Absatz 1 AM-NutzenV auf die erstmalige Zulassung eines Arzneimittels mit einem neuen Wirkstoff zumindest in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union ankommt, nicht auf die erstmalige Zulassung eines Arzneimittels mit dem Wirkstoff in oder für Deutschland. Diese kann zugleich die erstmalige Zulassung des Arzneimittels mit dem neuen Wirkstoff in der Europäischen Union sein; sie ist es aber nicht, wenn ein Arzneimittel mit dem Wirkstoff bereits zuvor in zumindest einem Mitgliedstaat der Europäischen Union zugelassen worden war. Maßgeblich für die Neuheit ist in letzterer Konstellation nicht ein Unterlagenschutz des neu in Deutschland in den Verkehr gebrachten Arzneimittels, sondern der Unterlagenschutz des Arzneimittels, das mit dem Wirkstoff des neu in Deutschland in den Verkehr gebrachten Arzneimittels erstmalig in der Europäischen Union zugelassen worden war.
Für ein hiervon abweichendes Erfordernis der krankenversicherungsrechtlichen Erstattungsfähigkeit des erstmalig zugelassenen Arzneimittels mit dem Wirkstoff in Deutschland, um hier einen zulassungsrechtlichen Unterlagenschutz begründen zu können, bieten die Begriffsbestimmungen in § 2 Absatz 1 AM-NutzenV keinen genügenden normativen Anknüpfungspunkt. Der Unterlagenschutz nach § 2 Absatz 1 Satz 2 AM-NutzenV knüpft als Merkmal für die Begrenzung der Dauer der Neuheit eines Wirkstoffs nach § 2 Absatz 1 Satz 1 AM-NutzenV nicht an die Erstattungsfähigkeit des einen Unterlagenschutz begründenden Arzneimittels zulasten der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung an, sondern an seine erstmalige Zulassung in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union. Aufgrund der Herkunft des Unterlagenschutzes nach § 2 Absatz 1 Satz 2 AM-NutzenV aus dem europarechtlich harmonisierten zulassungsrechtlichen Unterlagenschutz, der grundsätzlich für zehn Jahre besteht und um ein weiteres Jahr verlängert werden kann, ist durch § 2 Absatz 1 Satz 2 AM-NutzenV schlicht eine Frist bestimmt, mit der die Geltung eines Arzneimittels mit einem neuen Wirkstoff im Sinne des § 2 Absatz 1 Satz 1 AM-NutzenV als ein Arzneimittel mit einem neuen Wirkstoff als einer Voraussetzung für die Einbeziehung von Arzneimitteln mit diesem Wirkstoff in die obligatorische Nutzenbewertung nach § 35a Absatz 1 SGB V endet. Nur auf den zulassungsrechtlichen Unterlagenschutz für das erstmalig zugelassene Arzneimittel mit dem neuen Wirkstoff in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union als formales einzelfallunabhängiges Kriterium kommt es für die Dauer der Geltung als ein Arzneimittel mit einem neuen Wirkstoff an. Rechtlich unerheblich ist danach, ob das 2015 in Deutschland neu zugelassene Arzneimittel Soolantra® bezogen auf das zugelassene Anwendungsgebiet auf neu bekannt gewordenen Wirkungen des 2015 bereits bekannten Wirkstoffs Ivermectin beruht. Unbeachtlich ist danach auch, ob daher für Soolantra® Verschreibungspflicht besteht und für das Arzneimittel eine neue Zulassung mit einem neuen Unterlagenschutz erteilt worden ist. Hierauf stellt § 2 Absatz 1 AM-NutzenV für den Begriff des Arzneimittels mit neuen Wirkstoffen nicht explizit ab.
Besteht der europarechtlich determinierte Unterlagenschutz für das erstmalig in zumindest einem Mitgliedstaat der Europäischen Union zugelassene Arzneimittel mit dem neuen Wirkstoff nicht mehr, ist die obligatorische Nutzenbewertung eines Arzneimittels mit diesem Wirkstoff ausgeschlossen. Ausgehend hiervon bestand Unterlagenschutz für das 1999 in Frankreich erstmalig mit dem Wirkstoff Ivermectin zugelassene Arzneimittel Stromectol® im Zeitpunkt der streitigen Nutzenbewertung 2015 nicht mehr, denn ein europarechtlich determinierter Unterlagenschutz galt auch bereits vor Inkrafttreten der geltenden Unterlagenschutzbestimmungen nach altem Recht und bestand für nationale Zulassungen, die von Frankreich gewährt wurden, für zehn Jahre. 2015 war Ivermectin kein neuer Wirkstoff mehr im Sinne der Vorschriften zu der obligatorischen Nutzenbewertung in Deutschland unterliegenden Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen, so dass der streitige Nutzenbewertungsbeschluss rechtswidrig und unwirksam ist.
Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 31/24.