Bundessozialgericht

Verhandlung B 3 P 9/22 R

Pflegeversicherung - Pflegegeld - § 43a SGB XI - Pflegegrad 3 - Eingliederungshilfe - besondere Wohnform - Wohn- und Betreuungsvertrag - Vermögen - Leistungsausschluss - verfassungswidrig

Verhandlungstermin 05.09.2024 13:00 Uhr

Terminvorschau

W. B. ./. Pflegekasse bei der AOK NORDWEST
Im Streit steht der Anspruch auf Pflegegeld nach § 37 SGB XI anstelle der Leistung nach § 43a SGB XI.

Der 1951 geborene, nach dem Pflegegrad 3 pflegebedürftige Kläger ist bei der beklagten Pflegekasse pflegeversichert und daneben beihilfeberechtigt (je zur Hälfte). Er ist von Geburt an geistig behindert und lebt seit 1998 in einer Lebensgemeinschaft, die Menschen mit Behinderungen neben Wohnraumüberlassung Leistungen der Eingliederungshilfe erbringt. Der Kläger bewohnt dort auf vertraglicher Grundlage ein Einzelzimmer und nimmt Leistungen unter anderem der Pflege und Betreuung in Anspruch. Er ist in die Hilfebedarfsgruppe 3 eingestuft. Den Leistungen und den Entgelten hierfür liegen nach dem vom Kläger mit der Lebensgemeinschaft abgeschlossenen Wohn- und Betreuungsvertrag die Leistungs- und Vergütungsvereinbarung der Lebensgemeinschaft mit dem Träger der Eingliederungshilfe sowie der Bayerische Rahmenvertrag für teilstationäre und stationäre Leistungen zugrunde. Die Kosten seiner Versorgung in der Lebensgemeinschaft trägt der Kläger selbst. Eine Kostenübernahme durch den Träger der Eingliederungshilfe hat dieser mit Blick auf das zu berücksichtigende Einkommen und Vermögen des Klägers abgelehnt.

Zum 1. Januar 2020 beantragte der Kläger die Zahlung von Pflegegeld nach dem Pflegegrad 3 anstelle der ihm bislang gezahlten geringeren Pauschalleistung nach § 43a SGB XI (jeweils hälftig neben dem Beihilfeanspruch). Die Beklagte lehnte einen Anspruch auf Pflegegeld ab und zahlte weiterhin die Leistung nach § 43a SGB XI an den Kläger, der in einer Räumlichkeit nach § 71 Absatz 4 Nummer 3 SGB XI lebe (“besondere Wohnform“) und bei dem deshalb keine häusliche Pflege vorliege.

Das Sozialgericht hat die Klage abgewiesen und das Landessozialgericht die Berufung zurückgewiesen: Auf Pflegegeld bestehe nur bei häuslicher Pflege Anspruch. Diese liege nicht vor, wenn Pflegebedürftige in einer Räumlichkeit nach § 71 Absatz 4 Nummer 3 SGB XI gepflegt würden. Die Lebensgemeinschaft, in der der Kläger lebe, Leistungen der Eingliederungshilfe in Anspruch nehme und gepflegt werde, sei bis 31. Dezember 2019 als vollstationäre Einrichtung der Eingliederungshilfe zu qualifizieren gewesen und ab 1. Januar 2020 als Räumlichkeit nach § 71 Absatz 4 Nummer 3 SGB XI anzusehen, nachdem sich mit dem Rechtswechsel im Eingliederungshilferecht Änderungen in ihrem Leistungsangebot nicht ergeben hätten. Statt des begehrten Pflegegelds habe der Kläger weiterhin Anspruch auf die Leistung nach § 43a SGB XI, der nicht entgegen stehe, dass der Träger der Eingliederungshilfe eine Leistungsbewilligung abgelehnt habe, sondern er die ihm auf vertraglicher Grundlage erbrachten Eingliederungshilfeleistungen der Lebensgemeinschaft selbst zahle. Verfassungsrecht werde durch den Ausschluss vom Pflegegeld nicht verletzt.

Mit seiner vom Landessozialgericht zugelassenen Revision rügt der Kläger die Verletzung von §§ 36, 37 in Verbindung mit § 71 SGB XI. Diese Vorschriften seien seit dem 1. Januar 2020 so zu interpretieren, dass der pflegebedürftige Kläger in Räumlichkeiten einer Einrichtung der Eingliederungshilfe über eine eigene Häuslichkeit verfüge. Hilfsweise erstrebt der Kläger die Aussetzung des Verfahrens zur Einholung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, ob der Leistungsausschluss vom Pflegegeld für Menschen mit Behinderungen, die ihnen erbrachte Leistungen einer Einrichtung der Eingliederungshilfe selbst zahlen, verfassungswidrig ist.

Verfahrensgang:
Sozialgericht Nürnberg, S 19 P 132/20, 30.07.2021
Bayerisches Landessozialgericht, L 4 P 56/21, 22.09.2022

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Terminbericht

Die Revision des Klägers war erfolglos. Er hat weder Anspruch auf Pflegegeld noch sonst auf höhere Leistungen nach dem SGB XI bis zur Höhe des Pflegegelds nach dem Pflegegrad 3. Anspruch hat er auf die Pauschalleistung nach § 43a SGB XI.

Pflegebedürftige der Pflegegrade 2 bis 5 haben bei häuslicher Pflege Anspruch auf häusliche Pflegehilfe als Sachleistung und können anstelle der häuslichen Pflegehilfe ein Pflegegeld beantragen (§ 36 Absatz 1 Satz 1, § 37 Absatz 1 Satz 1 SGB XI). Häusliche Pflegehilfe und damit an deren Stelle Pflegegeld sind auch zulässig, wenn Pflegebedürftige nicht in ihrem eigenen Haushalt gepflegt werden; sie sind nicht zulässig, wenn Pflegebedürftige in einer stationären Pflegeeinrichtung oder in einer Einrichtung oder in Räumlichkeiten im Sinne des § 71 Absatz 4 SGB XI gepflegt werden (§ 36 Absatz 4 Satz 1 SGB XI). Räumlichkeiten in diesem Sinne sind solche, in denen der Zweck des Wohnens von Menschen mit Behinderungen und der Erbringung von Leistungen der Eingliederungshilfe für diese im Vordergrund steht, auf deren Überlassung das Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz Anwendung findet und in denen der Umfang der Gesamtversorgung der dort wohnenden Menschen mit Behinderungen durch Leistungserbringer regelmäßig einen Umfang erreicht, der weitgehend der Versorgung in einer vollstationären Einrichtung entspricht (§ 71 Absatz 4 Nummer 3 SGB XI).

Nach der auf seinen mit Verfahrensrügen nicht angegriffenen Feststellungen beruhenden Würdigung des Landesozialgerichts lebt der pflegebedürftige Kläger in einer solchen “besonderen Wohnform“ der Eingliederungshilfe und werden ihm dort Leistungen der Eingliederungshilfe einschließlich Pflegeleistungen erbracht. Diese Würdigung ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Ein Anspruch auf Pflegegeld ist danach mangels häuslicher Pflege ausgeschlossen. Insbesondere steht dem nicht entgegen, dass der Kläger die ihm erbrachten Leistungen der Eingliederungshilfe selbst zahlt. Der Begriff der Räumlichkeit in § 71 Absatz 4 Nummer 3 SGB XI knüpft allein an den Ort an, an dem gepflegt wird, nicht aber daran, wer die Kosten der Eingliederungshilfeleistungen trägt.

Anspruch hat der Kläger dagegen auf die Leistung nach § 43a SGB XI, die ihm von der Beklagten auch bewilligt und gezahlt worden ist (hälftig neben dem Beihilfeanspruch). Ergänzend hierzu steht dem Kläger ein Anspruch auf anteiliges Pflegegeld für die Tage zu, an denen er sich nicht in der Räumlichkeit aufhält, sondern in einer häuslichen Umgebung, und er dort gepflegt und betreut wird.

Die Leistung nach § 43a SGB XI für Pflegebedürftige der Pflegegrade 2 bis 5 in Räumlichkeiten im Sinne des § 71 Absatz 4 Nummer 3 SGB XI, die Leistungen der Eingliederungshilfe erhalten, ist eine pflegegradunabhängige pauschale Beteiligung der Pflegekasse an pflegebedingten Aufwendungen in Höhe von maximal 266 Euro im Monat. Sie ist nach der Rechtsprechung des Senats ein Individualanspruch der Versicherten auf Beteiligung der Pflegekassen an den Pflegekosten in Einrichtungen der Eingliederungshilfe in begrenztem Umfang. Nach ihrer Konzeption ist die Leistung nach § 43a SGB XI ein finanzieller Ausgleich dafür, dass auch in den “besonderen Wohnformen“ der Eingliederungshilfe Leistungen der Pflegeversicherung grundsätzlich nicht erbracht werden, sondern Pflegeleistungen auf gesetzlicher Grundlage Bestandteil der Fachleistungen der Eingliederungshilfe sind (§ 13 Absatz 3 Satz 3 Halbsatz 2 SGB XI, § 103 Absatz 1 Satz 1 SGB IX).

Dem Individualanspruch des Klägers hierauf steht nicht entgegen, dass der Träger der Eingliederungshilfe zwar seinen Anspruch auf Eingliederungshilfe für grundsätzlich gegeben gehalten, eine Kostenübernahme aber wegen zu berücksichtigenden Einkommens und Vermögens abgelehnt hat, und der Kläger die vom Leistungserbringer erhaltenen Leistungen einschließlich Pflegeleistungen, die ihm auf vertraglicher Grundlage erbracht werden, daher vollständig selbst zahlt.

Dass der pflegegradunabhängige Anspruch auf 266 Euro im Monat begrenzt ist, begegnet auch für den Kläger als Selbstzahler seiner Eingliederungshilfeleistungen keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Der Gesetzgeber hat bei sozialpolitischen Entscheidungen auf dem Gebiet des Sozialversicherungsrechts grundsätzlich eine besonders weite Gestaltungsfreiheit, die nur einer eingeschränkten verfassungsrechtlichen Kontrolle unterliegt. Es verstößt danach nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz, Leistungen für Pflegebedürftige in Räumlichkeiten der Eingliederungshilfe anders auszugestalten als bei häuslicher Pflege oder Pflege in stationären Pflegeeinrichtungen, weil die Differenzierung der Art der Leistungen der Pflegeversicherung nach dem Ort der Pflegeleistungen angesichts der je nach Ort unterschiedlichen Strukturen der Sicherstellung der Pflege kein unsachlicher Gesichtspunkt ist. § 43a SGB XI weicht auch nicht von den allgemeinen Regelungsstrukturen der Pflegeversicherung - insbesondere Ortsbezogenheit und keine vollständige Bedarfsdeckung auch bei pflegegradabhängigen Leistungen - ab. Es begründet zudem keinen Gleichheitsverstoß durch das Pflegeversicherungsrecht, dass das Eingliederungshilferecht seit 1. Januar 2020 mit dem Prinzip der Personenzentrierung einer abweichenden Differenzierungslogik folgen soll; normativ wird für die Leistungen der Pflegeversicherung weiterhin an den Ort angeknüpft, an dem die Pflegeleistungen erbracht werden. Strengere Maßstäbe ergeben sich vorliegend nicht aus dem besonderen Gleichheitssatz in Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 GG. Die Abgrenzungsregelungen zwischen Pflegeversicherung und Eingliederungshilfe knüpfen schon nicht benachteiligend an eine Behinderung an, sondern an die Leistungs- und Finanzierungsverantwortung verschiedener Leistungsträger im gegliederten Sozialleistungssystem.

Die diesen Regelungen zugrunde liegenden Typisierungen und Pauschalierungen werden - auch mit Blick auf Freiheitsgrundrechte - verfassungswidrig nicht dadurch, dass pflegebedürftige Personen in Räumlichkeiten nach § 71 Absatz 4 Nummer 3 SGB XI Leistungen der Eingliederungshilfe vom Leistungserbringer im Sinne des § 43a SGB XI "erhalten", diese wegen zu berücksichtigenden Einkommens und Vermögens aber selbst zahlen, der Träger der Eingliederungshilfe also keine Kosten übernimmt. Dies gebietet verfassungsrechtlich weder, dass Selbstzahler statt des Anspruchs auf die Leistung nach § 43a SGB XI Anspruch auf Pflegegeld haben müssten, obwohl sie nicht im Sinne des SGB XI im häuslichen Umfeld gepflegt werden, noch dass die Leistung nach § 43a SGB XI für Selbstzahler von Leistungen der Eingliederungshilfe einschließlich Pflegeleistungen auf die Höhe des pflegegradabhängigen Pflegegelds angehoben werden müsste. Dennoch mögliche höhere Leistungen der Pflegeversicherung für diese Personengruppe vorzusehen, kommt allein dem Gesetzgeber zu.

Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 31/24.

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