Verhandlung B 4 AS 6/23 R
Grundsicherung für Arbeitsuchende - kommunales Jobcenter- endgültige Festsetzung - vorläufige Bewilligung - Nullfestsetzung - vorrangiger Erstattungsanspruch gegen Sozialhilfeträger - Zurechnung - Kenntnis
Verhandlungstermin
11.09.2024 11:00 Uhr
Terminvorschau
M. S. P. ./. Kommunales Jobcenter Lahn-Dill
beigeladen: Lahn-Dill-Kreis
Die Beteiligten streiten über die endgültige Festsetzung von SGB II-Leistungen für März bis September 2015 in Höhe von null Euro und die Erstattung der für diesen Zeitraum erbrachten vorläufigen Leistungen.
Die Klägerin und ihr während des Berufungsverfahrens verstorbener Ehemann waren im streitigen Zeitraum spanische Staatsangehörige und hielten sich seit Januar 2013 im Bundesgebiet auf.
Im Hinblick auf die damals beim Gerichtshof der Europäischen Union anhängige Rechtssache Alimanovic (C 67/14) bewilligte das beklagte kommunale Jobcenter des beigeladenen Landkreises den Klägern vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für März 2015 bis Februar 2016. Nach dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 15. September 2015 setzte der Beklagte die Leistungen für März bis September 2015 endgültig jeweils auf null Euro fest und verlangte von der Klägerin die Erstattung von 3777,83 Euro und 4958,04 Euro von ihrem Ehemann.
Die Klagen der Eheleute hat das Sozialgericht verbunden und abgewiesen. Das Landessozialgericht hat dieses Urteil geändert und die angefochtenen Bescheide in Bezug auf die "Rückforderung" aufgehoben. Im Übrigen hat es die Berufungen zurückgewiesen. Zwar habe der Beklagte die endgültigen Leistungen zutreffend mit null Euro festgesetzt, weil die Klägerin und ihr Ehemann als Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich nur aus dem Zweck der Arbeitsuche ergeben habe, von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende ausgeschlossen seien. Dem Erstattungsanspruch gegen die Klägerin stehe jedoch ein vorrangiger Erstattungsanspruch gegen den beigeladenen Landkreis als Sozialhilfeträger entgegen. Gegen diesen hätten die Klägerin und ihr Ehemann einen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach § 23 SGB XII in gleicher Höhe wie die vom Beklagten erbrachten SGB II-Leistungen gehabt. Die Kenntnis des kommunalen Jobcenters von den Leistungsvoraussetzungen müsse sich die Optionskommune auch mit Blick auf Leistungen nach SGB XII zurechnen lassen.
Mit der Revision rügt der Beklagte eine unzutreffende Auslegung des § 107 SGB X. Es bestehe kein vorrangiger Erstattungsanspruch gegen den beigeladenen Landkreis als Sozialhilfeträger.
Insbesondere dürfe die Kenntnis des Beklagten von den Voraussetzungen der Leistungspflicht dem Beigeladenen nicht zugerechnet werden.
Die Klägerin hat mehr als ein Jahr nach Zustellung der Revisionsbegründung zu dieser Stellung genommen. Sie verteidigt das angegriffene Urteil. Hilfsweise beantragt sie, den Beigeladenen zur Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts im streitigen Zeitraum zu verpflichten.
Verfahrensgang:
Sozialgericht Gießen, S 29 AS 591/16, 09.07.2019
Hessisches Landessozialgericht, L 9 AS 572/19, 24.02.2023
Sämtliche Vorschauen zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 32/24.
Terminbericht
Die Revision des beklagten kommunalen Jobcenters war überwiegend erfolgreich. Lediglich die Höhe seiner Erstattungsansprüche gegen die Klägerin war herabzusetzen. Dabei hatte der Senat nicht mehr über die endgültige Leistungsfestsetzung durch den Beklagten zu entscheiden, weil die Klägerin kein Rechtsmittel eingelegt hat. Auch über mögliche Ansprüche der Klägerin gegen den beigeladenen Landkreis war nicht mehr zu entscheiden, nachdem die Klägerin ihre Klagen insoweit im Termin zurückgenommen hat.
Der Beklagte hat dem Grunde nach einen Erstattungsanspruch gegen die Klägerin aus § 40 Absatz 2 Nummer 1 SGB II in Verbindung mit § 328 Absatz 3 Satz 2 Halbsatz 1 SGB III. Das gilt auch für die ihrem Ehemann gezahlten Leistungen, für die sie nicht als Sonderrechtsnachfolgerin, sondern als Erbin einer Nachlassverbindlichkeit haftet.
Dem Erstattungsanspruch steht die Erfüllungsfiktion des § 107 SGB X nicht entgegen, weil der allein in Betracht kommende Erstattungsanspruch nach § 105 SGB X gegen den Beigeladenen nicht besteht. Dieser scheitert nicht schon daran, dass der beigeladene Landkreis zum einen Sozialhilfeträger und zum anderen als zugelassener kommunaler Träger Rechtsträger des beklagten Jobcenters ist. Wegen der in §§ 6a, 6b SGB II enthaltenen Maßgaben für zugelassene kommunale Träger sind die Voraussetzungen für einen solchen "In-sich-Prozess" erfüllt. Dies hat das Bundessozialgericht in Bezug auf die Frage der notwendigen Beiladung bereits entschieden (Urteil vom 16. Dezember 2015 - B 14 AS 15/14 R - SozR 4-4200 § 7 Nummer 48). Jedoch kann nach § 105 Absatz 3 SGB X ein Erstattungsanspruch gegen einen Sozialhilfeträger nur dann bestehen, wenn dieser Kenntnis von den Voraussetzungen seiner etwaigen Leistungspflicht hatte. Dies war vorliegend nicht der Fall, denn anders als im Leistungsverhältnis kann im Erstattungsverhältnis die Kenntnis des Jobcenters von leistungsrelevanten Sachverhalten auch bei einem zugelassenen kommunalen Träger nicht zugleich als Kenntnis dieses Trägers in seiner Funktion als Sozialhilfeträger angesehen oder zugerechnet werden.
Für gemeinsame Einrichtungen nach § 44b SGB II hat das Bundessozialgericht mit Urteil vom 8. Dezember 2022 (B 7/14 AS 11/21 R - BSGE 135, 181 = SozR 4-1300 § 105 Nummer 9) bereits entschieden, dass einem Sozialhilfeträger im Erstattungsverhältnis anders als im Leistungsverhältnis die Kenntnis des Jobcenters nicht zugerechnet werden kann.
Dies gilt auch für einen zugelassenen kommunalen Träger. Anderenfalls liefe die nach § 105 Absatz 3 SGB X vorgesehene Privilegierung des Sozialhilfeträgers in diesen Fällen stets leer, obwohl es sich um strikt zu trennende Aufgaben handelt. Für die Aufgaben nach dem SGB II sind nach § 6a Absatz 5 SGB II besondere Einrichtungen zu schaffen, deren Aufwendungen zu einem wesentlichen Teil vom Bund getragen werden (§ 6b Absatz 2 SGB II).
Der Erstattungsanspruch gegen die Klägerin steht dem Beklagten jedoch nicht in voller Höhe zu. Nicht zu erstatten sind die vom Beklagten an den Gesundheitsfonds gezahlten Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung für den streitigen Zeitraum, denn diese sind keine dem Ehemann "erbrachte Leistungen" im Sinne von § 328 Absatz 3 Satz 2 Halbsatz 1 SGB III. Die Voraussetzungen des § 335 SGB III liegen nicht vor.
Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 32/24.