Bundessozialgericht

Verhandlung B 9 SB 2/23 R

Schwerbehindertenrecht - Merkzeichen G - Wertmarke - unentgeltliche Beförderung - Sozialhilfe - Hilfe zur Pflege

Verhandlungstermin 19.09.2024 10:15 Uhr

Terminvorschau

U. L. ./. Land Niedersachsen
Die Klägerin begehrt die Erstattung von 91 Euro für eine 2021 an sie ausgegebene Wertmarke zur unentgeltlichen Beförderung schwerbehinderter Menschen im öffentlichen Personenverkehr.

Der 1940 geborenen Klägerin ist ein Grad der Behinderung (GdB) von 90 und das Merkzeichen G zuerkannt. Sie lebt in einem Pflegeheim und erhält vom zuständigen Sozialhilfeträger zur Deckung der Heimkosten Hilfe zur Pflege nach dem Siebten Kapitel des SGB XII. Wegen ihrer Regelaltersrente und Ehegattenunterhalts wies die der Hilfe zur Pflege zugrunde liegende Bedarfsberechnung keinen Anspruch auf Hilfe zum notwendigen Lebensunterhalt in stationären Einrichtungen nach dem SGB XII aus.

Im Juli 2021 beantragte die Klägerin die Ausstellung einer kostenlosen Wertmarke zur unentgeltlichen Beförderung im öffentlichen Personenverkehr. Den Antrag lehnte der Beklagte ab. Die Klägerin zähle nicht zum anspruchsberechtigten Personenkreis. Anschließend gewährte der zuständige Sozialhilfeträger der Klägerin ein Darlehen in Höhe von 91 Euro für die Erteilung der Wertmarke unter Einbehaltung gleichbleibender monatlicher Raten von 9,10 Euro.

Das Sozialgericht hat den Beklagten verurteilt, der Klägerin die Kosten für die Erteilung der Wertmarke zu erstatten. Auf die Berufung des Beklagten hat das Landessozialgericht das Urteil des Sozialgerichts aufgehoben und die Klage abgewiesen. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Kostenerstattung. Sie gehöre nicht zum anspruchsberechtigten Personenkreis. Im streitgegenständlichen Zeitraum habe die Klägerin keinen Anspruch auf laufende Leistungen für den Lebensunterhalt nach dem Dritten oder Vierten Kapitel des SGB XII gehabt. Vielmehr habe sie ausschließlich Hilfe zur Pflege nach dem Siebten Kapitel des SGB XII bezogen. Die Befreiungsregelung erfasse jedoch den Bezug dieser Sozialhilfeleistung nicht. Mit ihr habe der Gesetzgeber nur Personen begünstigen wollen, die laufende Sozialhilfeleistungen zur Deckung ihres notwendigen Lebensunterhalts erhielten. Darin liege weder ein Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz noch gegen das Grundrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums.

Mit der Revision rügt die Klägerin die Verletzung von § 228 Absatz 4 Nummer 2 SGB IX. Sie gehöre zum befreiungsberechtigten Personenkreis. Der Gleichbehandlungsgrundsatz gebiete, auch Personen zu erfassen, die Empfängern von laufenden Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem Dritten oder Vierten Kapitel des SGB XII im Wesentlichen gleichstünden. Als Empfängerin von Hilfe zur Pflege sei sie dem Sozialhilfesystem zuzuordnen. Durch die Tilgung des Darlehens stünden ihr weniger bereite Mittel zur Verfügung als Beziehern von laufenden Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII, die über keine eigenen anrechenbaren Einkünfte verfügten.

Verfahrensgang:
Sozialgericht Braunschweig, S 8 SB 392/21, 24.06.2022
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, L 10 SB 107/22, 28.09.2023

Die Vorschau zu dem Verhandlungstermin des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 34/24.

Terminbericht

Die Revision der Klägerin hat Erfolg. Entgegen der Ansicht des Landessozialgerichts hat die Klägerin Anspruch auf Erstattung des Eigenanteils für die an sie ausgegebene Wertmarke zur unentgeltlichen Beförderung schwerbehinderter Menschen im öffentlichen Personenverkehr.

Die in einem Pflegeheim wohnende Klägerin erfüllt gemäß § 228 Absatz 1 Satz 1 SGB IX wegen ihrer Schwerbehinderung und der Zuerkennung des Merkzeichens G die Grundvoraussetzungen für eine unentgeltliche Beförderung im öffentlichen Personenverkehr. Sie ist auch nach § 228 Absatz 4 Nummer 2 SGB IX von der Erbringung eines Eigenanteils befreit. Zwar erfasst die Vorschrift ihrem Wortlaut nach nur den Bezug von Lebensunterhalt sichernden laufenden Leistungen nach dem Dritten und Vierten Kapitel des SGB XII. Trotzdem genügt als Anspruchsvoraussetzung über den Wortlaut hinaus auch der Erhalt von Hilfe zur Pflege nach dem Siebten Kapitel des SGB XII, jedenfalls soweit Anspruch auf Hilfe zur Pflege in einem Alten- und Pflegeheim besteht. Dies folgt aus einer analogen Anwendung der Norm auf hilfebedürftige Heimbewohner, die durch den Bezug von Hilfe zur Pflege dem Existenzsicherungssystem der Sozialhilfe zugehörig sind. Durch den Systemwechsel vom Bundessozialhilfegesetz (BSHG) zum SGB XII im Jahr 2005 ist insoweit eine planwidrige Regelungslücke im SGB IX entstanden.

Der Gesetzgeber hat nach der Gesetzeshistorie und den zugrunde liegenden Gesetzesmaterialien ab Oktober 1985 bewusst bedürftige Heimbewohner von der Aufbringung des Eigenanteils befreit. Diese Befreiung galt nach damaligem Recht des BSHG unterschiedslos für alle bedürftigen Heimbewohner. Im Zuge des Systemwechsels vom BSHG zum SGB XII im Jahr 2005 sind Heimbewohner teilweise aus dem Anwendungsbereich des Befreiungstatbestands herausgefallen, weil der Gesetzgeber im Sozialhilferecht die Leistungen zum Lebensunterhalt und die Hilfen in besonderen Lebenslagen getrennt geregelt hat. Bei diesem Anspruchsausschluss handelt es sich aber um eine unbeabsichtigte Nebenfolge des Systemwechsels. Es ist nicht erkennbar, dass der Gesetzgeber  mit diesem bewusst sozialhilfebedürftige Heimbewohner, die nur Hilfe zur Pflege beziehen, von der Befreiung des § 228 Absatz 4 Nummer 2 SGB IX (oder seiner Vorgängerbestimmungen) ausschließen wollte. Hinweise für einen dahingehenden Veränderungswillen des Gesetzgebers finden sich in den einschlägigen Gesetzesmaterialien nicht. Ein sachlicher Grund für den Ausschluss dieser hilfebedürftigen Heimbewohner ist auch nicht ersichtlich.

Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 34/24.

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