Bundessozialgericht

Verhandlung B 3 P 9/23 R

Pflegeversicherung - Pflegegeld - Pflegegrad 2 - Diabetes Mellitus Typ 1

Verhandlungstermin 12.12.2024 13:30 Uhr

Terminvorschau

O. G. ./. Pflegekasse bei der AOK NORDWEST
Im Streit steht Pflegegeld nach dem Pflegegrad 2 ab 1. Januar 2017.

Bei dem 2009 geborenen und bei der Beklagten pflegeversicherten minderjährigen Kläger besteht ein insulinpflichtiger Diabetes Mellitus Typ 1. Er ist mit einer Insulinpumpe versorgt. Auf seinen Antrag auf Leistungen bei ambulanter Pflege bewilligte ihm die Beklagte auf der Grundlage eines von ihr eingeholten Gutachtens des Medizinischen Diensts der Krankenversicherung (MDK) Leistungen der Pflegeversicherung nach dem Pflegegrad 1 ab 1. Januar 2017. Seinen Widerspruch hiergegen mit dem Ziel der Bewilligung von Leistungen zumindest nach Pflegegrad 2 wies sie nach Einholung eines weiteren MDK-Gutachtens zurück, weil die Summe der gewichteten Punkte nicht die für die Bewilligung des Pflegegrads 2 erforderliche Punktzahl erreiche.

Das Sozialgericht hat nach Einholung eines Gutachtens einer Pflegesachverständigen die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab 1. Januar 2017 die begehrten Leistungen der Pflegeversicherung nach dem Pflegegrad 2 zu gewähren. Es bestünden unterschiedliche Auffassungen über die Auslegung der Begutachtungs-Richtlinien des Spitzenverbands Bund der Pflegekassen bei Kindern mit Diabetes Mellitus Typ 1 und das Gericht folge insoweit der Auslegung und den Feststellungen im Gutachten der Pflegesachverständigen. Das Landessozialgericht hat nach Einholung eines Gutachtens einer weiteren Pflegesachverständigen auf die nur von der Beklagten eingelegte Berufung den Tenor des Urteils des Sozialgerichts neu gefasst und die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab 1. Januar 2017 Pflegegeld nach dem Pflegegrad 2 zu gewähren; im Übrigen hat es die Berufung zurückgewiesen. Entgegen der Auffassung der Beklagten seien die hier allein noch streitigen Pflegebedarfe in den Modulen 3 und 4 (§ 14 Absatz 2 und § 15 Absatz 2 SGB XI) anzuerkennen mit der Folge, dass eine Pflegebedürftigkeit des Klägers nach dem Pflegegrad 2 bestehe. Im Modul 3 (Verhaltensweisen und psychische Problemlagen) sei die Abwehr des Klägers aus kindlicher Angst gegen das schmerzhafte Setzen der Kanüle der Insulinpumpe zu berücksichtigen. Im Modul 4 (Selbstversorgung) sei beim Essen die Kontrolle der vollständigen Nahrungsaufnahme im Zusammenhang mit der Dosierung der Insulingaben zu berücksichtigen unabhängig davon, ob eine Diät einzuhalten sei. Das Einhalten einer Diät sei in Modul 5 zu berücksichtigen (Bewältigung von und selbständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen).

Mit ihrer vom Landessozialgericht zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung insbesondere von §§ 14 und 15 SGB XI. Im Modul 3 bei der Abwehr pflegerischer und anderer unterstützender Maßnahmen und im Modul 4 beim Essen hätten keine gewichteten Punkte berücksichtigt werden dürfen. Ein selbstbestimmtes Abwehrverhalten aus Angst vor Schmerzen könne auch bei Kindern weder nach dem Gesetz noch nach den Begutachtungs-Richtlinien im Modul 3 bewertet werden, solange die Angst nicht selbst Krankheitswert habe. Verhaltensweisen, die nicht Folge von Gesundheitsproblemen seien, könnten im Modul 3 nicht berücksichtigt werden. Auch ein im Modul 4 zu berücksichtigender Hilfebedarf beim Essen bestehe nicht. Der Hilfebedarf des Klägers beim Essen in Form der Kontrolle der vollständigen Aufnahme der an die Insulingaben angepassten Nahrung sei nach dem Gesetz wie nach den Begutachtungs-Richtlinien allein im Modul 5 zu berücksichtigen. Hiervon unabhängige und nicht altersentsprechende Einschränkungen des Klägers bei der Nahrungsaufnahme seien nicht festgestellt worden.

Verfahrensgang:
Sozialgericht Lübeck, S 30 P 7/20, 11.01.2022
Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, L 8 P 6/22, 21.08.2023

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Terminbericht

Die Revision der Beklagten war erfolglos. Der Kläger hat Anspruch auf das begehrte Pflegegeld nach dem Pflegegrad 2 ab 1. Januar 2017. Zutreffend haben die Vorinstanzen, gestützt auf die von ihnen eingeholten Gutachten, die hier allein noch streitigen Pflegebedarfe in den Modulen 3 und 4 (§ 14 Absatz 2 und § 15 Absatz 2 SGB XI) anerkannt mit der Folge, dass eine Pflegebedürftigkeit des Klägers nach dem Pflegegrad 2 besteht.

Ausgehend von den detaillierten gesetzlichen Vorgaben in §§ 14 und 15 SGB XI ist bei dem Kläger im Modul 3 ein Einzelpunkt bei Ziffer 3.8 (Abwehr pflegerischer und anderer unterstützender Maßnahmen) zu berücksichtigen. Das Landessozialgericht ist bei seiner entsprechenden Würdigung der für den Senat bindend festgestellten Tatsachen von zutreffenden rechtlichen Maßstäben ausgegangen. Die Würdigung des Landessozialgerichts ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Wenn die Abwehr pflegerischer und anderer unterstützender Maßnahmen durch Kinder gesundheitlich bedingt laufend überwunden werden muss, löst dies einen pflegerelevanten Hilfebedarf aus, wenn und weil die Abwehr mangels Einsichtsfähigkeit und Impulskontrollfähigkeit des Kindes nicht ohne Weiteres überwindbar ist. Dies trifft hier auf die noch bis zum Ende des streitigen Zeitraums fortbestehende Abwehr des Klägers aus kindlicher Angst gegen das schmerzhafte Setzen der Kanüle der Insulinpumpe zu, die überwunden werden muss, um die nötige Insulingabe zu ermöglichen. Nicht erforderlich ist, dass die Abwehr eine eigenständige gesundheitliche Ursache neben der Diabeteserkrankung hat; es genügt, dass die Behandlung einer Diabeteserkrankung eines Kindes pflegerelevante inadäquate Handlungen bedingt, die sich in einer Abwehr äußern, die ihrerseits gesundheitlich bedingt überwunden werden muss. Diese Abwehr aus kindlicher Angst hat auch nicht als altersentsprechend unberücksichtigt zu bleiben, weil sie aufgrund ihrer jeweils individuellen Bedingtheit durch die Diabeteserkrankung sich einem Vergleich mit altersentsprechend entwickelten Kindern weitgehend entzieht, die diesen gesundheitlich bedingt höheren Anforderungen nicht ausgesetzt sind. Dass nicht alle Kinder mit Diabetes ein pflegerelevantes Abwehrverhalten wie hier zeigen, steht einer Anerkennung eines Pflegebedarfs bei Kindern, die ein solches Verhalten zeigen, nicht entgegen.

Nichts anderes gegenüber diesen gesetzlichen Vorgaben ergibt sich aus den auf § 17 Absatz 1 SGB XI gestützten Begutachtungs-Richtlinien des Spitzenverbands Bund der Pflegekassen in allen im streitigen Zeitraum geltenden Fassungen. Diese Richtlinien zur pflegefachlichen Konkretisierung der Inhalte des Begutachtungsinstruments nach § 15 SGB XI sowie zum Verfahren der Feststellung der Pflegebedürftigkeit dienen dem Ziel, eine einheitliche Rechtsanwendung zu fördern. Sie entfalten nach der Rechtsprechung des Senats Bindungswirkung im Verwaltungsbereich und in diesem Rahmen über den allgemeinen Gleichheitssatz des Artikels 3 Absatz 1 GG auch im Außenverhältnis zu den Versicherten. Die hier einschlägigen Aussagen zum Modul 3 halten sich in den Grenzen der gesetzlichen Ermächtigung zum Erlass der Richtlinien.

Danach geht es nach der Erstfassung der neuen, ab 1. Januar 2017 geltenden Begutachtungs-Richtlinien vom 15. April 2016 wie nach der geänderten Fassung vom 31. März 2017 im Modul 3 um Verhaltensweisen und psychische Problemlagen als Folge von Gesundheitsproblemen, die immer wieder auftreten und personelle Unterstützung des Kindes erforderlich machen, soweit es ohne diese sein Verhalten nicht selbst steuern kann. Unter Punkt KF 4.3.8 wird die Abwehr pflegerischer und anderer unterstützender Maßnahmen als Abwehr von Unterstützung, zum Beispiel die Verweigerung notwendiger Verrichtungen, konkretisiert. Hierunter fällt auch die Abwehr des notwendigen Setzens der Kanüle der Insulinpumpe aus Angst, die die Fähigkeit des Kindes zur Selbststeuerung begrenzt. Soweit in der geänderten Fassung der Begutachtungs-Richtlinien vom 22. März 2021 das Modul 3 in Teilen dahin verengend konkretisiert worden ist, dass entwicklungstypische ängstliche Abwehrreaktionen auf Maßnahme wie Insulininjektionen hier nicht zu bewerten sind, weil sie nicht Folgen eines psychischen Gesundheitsproblems sind, vermag dies die Berücksichtigung des Hilfebedarfs des Klägers im Modul 3 nicht auszuschließen. Sein kindliches Abwehrverhalten aus Angst ist nach wie vor durch die Behandlung seiner Diabeteserkrankung bedingt und diese Abwehr muss gesundheitlich bedingt überwunden werden, auch wenn die durch Angst begrenzte Fähigkeit zur Selbststeuerung nicht Folge eines psychischen Gesundheitsproblems ist. Eine Verengung allein hierauf wäre mit den gesetzlichen Vorgaben, die in § 14 Absatz 1 Satz 1 und Absatz 2 SGB XI lediglich gesundheitlich bedingte Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten vorsehen, nicht zu vereinbaren und kann den Richtlinien so auch nicht entnommen werden, die weiterhin für nicht psychische Gesundheitsprobleme offen geblieben sind.

Zudem sind bei dem Kläger im Modul 4 drei Einzelpunkte bei Ziffer 4.8 (Essen) zu berücksichtigen. Auch insoweit ist das Landessozialgericht bei seiner entsprechenden Würdigung der für den Senat bindend festgestellten Tatsachen von zutreffenden rechtlichen Maßstäben ausgegangen und ist die Würdigung revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Wenn und soweit bei Kindern mit Diabetes gesundheitlich bedingt spezifische Anforderungen an die Nahrungsaufnahme bestehen und zugleich die Aufsicht über die diesen Anforderungen entsprechende Nahrungsaufnahme nach Art, Menge und Zeit im Zusammenhang mit der Dosierung der Insulingaben gesundheitlich bedingt geboten ist, löst dies einzelfallabhängig einen eigenständigen pflegerelevanten Hilfebedarf aus, wenn und soweit ein Kind abweichend von altersentsprechend entwickelten Kindern nicht stets von sich aus seine Nahrung vollständig zeitnah zu sich nimmt.

Dem steht nicht entgegen, dass beim Kläger im Modul 5 bei Ziffer 5.16 (Einhalten einer Diät oder anderer krankheits- oder therapiebedingter Verhaltensvorschriften) zwei Einzelpunkte berücksichtigt sind. Dieser mit dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff erfasste eigenständige Hilfebedarf beim Einhalten krankheitsbedingter Essvorschriften im Zusammenhang mit einer essensangepassten Medikamentengabe unterscheidet sich von der Aufsicht über Kinder mit Diabetes beim Essen jedenfalls dann, wenn und soweit ein Kind nicht stets von sich aus seine Nahrung vollständig zeitnah zu sich nimmt und dies gesundheitlich bedingt einen eigenständigen Hilfebedarf im Bereich der Selbstversorgung begründet. Dieser Hilfebedarf beim Essen neben dem bei der Einhaltung krankheitsbedingter Essvorschriften erfordert nicht, dass das Kind mit Blick auf die Selbständigkeit und Fähigkeiten beim Essen insgesamt nicht altersentsprechend entwickelt ist. Entscheidend ist vielmehr, dass das Kind im Zusammenhang mit der essensangepassten Dosierung der Insulingaben beim Essen erhöhten Anforderungen unterliegt und ob es insoweit - wie hier - einer besonderen, nicht mehr altersentsprechenden Beaufsichtigung beim Essen bedarf. Ist dem so, tritt dieser Hilfebedarf neben den in Modul 5 bei Ziffer 5.16 erfassten Hilfebedarf, der im Kern nicht den unmittelbaren Vorgang der Nahrungsaufnahme, sondern die Bewältigung von und den selbständigen Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen betrifft.

Auch insoweit ergibt sich nichts anderes aus den Begutachtungs-Richtlinien. Nach den Richtlinien in ihren im streitigen Zeitraum geltenden Fassungen ist im Modul 4 zu bewerten, ob das Kind die jeweilige Aktivität der Selbstversorgung praktisch und ohne Anleitung durchführen kann oder ob es der Unterstützung wie durch Impulsgabe und Aufsicht bedarf. Unter Punkt KF 4.4.8 (Essen) wird konkretisiert, dass auch zu berücksichtigen ist, inwieweit die Notwendigkeit der ausreichenden Nahrungsaufnahme (auch ohne Hungergefühl oder Appetit) erkannt und die empfohlene, gewohnte Menge tatsächlich gegessen wird. Muss das Kind zum Beispiel aufgefordert werden, weiterzuessen, ist dies als überwiegend selbständig zu werten. Auch hiernach begründet die Aufsicht über die vollständige zeitnahe Nahrungsaufnahme einen anzuerkennenden Pflegebedarf. Dem steht auch nach den Richtlinien nicht entgegen, dass das Einhalten von Diäten nicht unter Punkt KF 4.4.8, sondern unter Punkt KF 4.5.16 zu bewerten ist. Auch nach den Richtlinien ist das Einhalten einer Diät nicht allein unter Punkt KF 4.5.16 zu bewerten, sondern kann insoweit unter Punkt KF 4.4.8 zu bewerten sein, als dort zu berücksichtigen ist, inwieweit die Notwendigkeit der ausreichenden Nahrungsaufnahme (auch ohne Hungergefühl oder Appetit) erkannt und die empfohlene, gewohnte Menge tatsächlich gegessen wird. Die Aufforderung des Kindes, die diabetesbedingte Nahrung vollständig zeitnah auch ohne Hungergefühl oder Appetit aufzunehmen, um Blutzuckerentgleisungen zu vermeiden, unterscheidet sich insoweit vom Einhalten einer Diät oder anderer Essvorschriften, soweit diese sich nicht in der bloßen Nahrungsaufnahme erschöpfen, sondern etwa die Einhaltung einer blutzuckerspiegelangepassten Ernährung beinhalten. Im Modul 5 ist nach den Richtlinien zu bewerten, ob das Kind die jeweilige Aktivität praktisch durchführen kann. Ob ein Kind im Sinne der jeweiligen Konkretisierung in den Richtlinien unter Punkt KF 4.5.16 die Einsichtsfähigkeit hat, krankheitsbedingte Essvorschriften selbständig einzuhalten oder ob es insoweit der Erinnerung, Anleitung oder Beaufsichtigung bedarf, ist noch etwas anderes als die Frage danach, ob es der Aufsicht über die diabetesspezifische Nahrungsaufnahme nach Art, Menge und Zeit und der Aufforderung bedarf, weiterzuessen, weil die Notwendigkeit der Nahrungsaufnahme auch ohne Hungergefühl oder Appetit ungeachtet der Einsicht in krankheitsbedingte Essvorschriften nicht erkannt wird. Liegen gesundheitlich bedingte Beeinträchtigungen und hieraus resultierende je eigenständige Hilfebedarfe sowohl beim Essen als auch beim Einhalten spezifischer Essvorschriften vor, stehen auch die Richtlinien nicht einer Berücksichtigung dieser Bedarfe sowohl unter KF 4.4.8 als auch unter KF 4.5.16 entgegen.

Das jeweils engere Verständnis der Begutachtungs-Richtlinien durch die Beklagte lässt sich zwar mit dem Wortlaut und der Systematik von deren hier maßgeblichen Aussagen noch vereinbaren, es stimmt aber nicht mit den weiter gefassten gesetzlichen Vorgaben überein, denen der Vorrang gebührt und aus denen das hier dargelegte gesetzeskonforme Verständnis der Begutachtungs-Richtlinien folgt.

Zusammen mit den hier nicht streitigen Punkten sind beim Kläger danach 32,5 gewichtete Punkte anzuerkennen, die zum Pflegegrad 2 und dem Anspruch auf Pflegegeld führen.

Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 44/24.

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