Verhandlung B 9 BL 1/24 R
Blindengeld - Sachsen - Umzug - Pflegeheim - Niedersachsen
Verhandlungstermin
12.12.2024 10:15 Uhr
Terminvorschau
H. W. G. ./. Landeshauptstadt Hannover
Der Kläger begehrt die Bewilligung von niedersächsischem Landesblindengeld nach seinem Umzug von Sachsen in ein Pflegeheim nach Niedersachsen.
Der 1934 geborene Kläger hat einen Grad der Behinderung von 100. Ihm sind die Merkzeichen G, H, Bl und RF zuerkannt. Zudem hat er einen Pflegegrad der Stufe 3. Bis November 2017 lebte der Kläger in seiner Wohnung in Sachsen und bezog sächsisches Landesblindengeld. Er verzog in ein Pflegeheim nach Hannover. Daraufhin hob der zuständige Leistungsträger in Sachsen die Bewilligung von Landesblindengeld ab Dezember 2017 auf, weil der Kläger durch seinen Wegzug keinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Sachsen mehr habe.
Den vom Kläger gestellten Antrag auf Gewährung von niedersächsischem Landesblindengeld ab Dezember 2017 lehnte die Beklagte ab. Der Kläger habe in Niedersachsen keinen gewöhnlichen Aufenthalt. Die Unterbringung in einem Pflegeheim könne einen solchen nicht begründen.
Das Sozialgericht hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger antragsgemäß Blindengeld zu gewähren, weil er in Niedersachsen seinen gewöhnlichen Aufenthalt habe. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht das Urteil des Sozialgerichts aufgehoben und die Klage abgewiesen. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Landesblindengeld. Der in Niedersachsen in einem Pflegeheim begründete gewöhnliche Aufenthalt gelte nicht als solcher. Dafür spreche die Gesetzeshistorie und der Zweck der einschlägigen Regelungen des Landesblindengeldgesetzes, der darin bestehe, dass das Land Niedersachen bei Aufnahme eines zugezogenen blinden Menschen in ein niedersächsisches Pflegeheim ohne vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt in Niedersachen nicht auch die Kosten des Blindengelds tragen solle. Auch die Systematik der einschlägigen Normen stütze das Ergebnis. So sei Blinden ein Anspruch auf Blindengeld eingeräumt, die sich in einer stationären Einrichtung in der Bundesrepublik Deutschland aufhielten und im Zeitpunkt der Aufnahme in die Einrichtung ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Niedersachsen gehabt hätten. Würde der Aufenthalt in einer stationären Einrichtung in Niedersachsen zugleich den gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Bundesland begründen, wäre diese Regelung sinnlos. Das gefundene Ergebnis sei auch nicht verfassungswidrig und verstoße angesichts der weitgehenden Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers im Bereich der gewährenden Staatstätigkeit nicht gegen den Gleichheitsgrundsatz. Beim Landesblindengeld handele es sich um eine aus Landesmitteln finanzierte freiwillige Leistung. Für eine Differenzierung bestünden auch vernünftige Gründe. In eine Einrichtung ziehende Blinde mit vorherigem gewöhnlichen Aufenthalt in Niedersachsen wiesen typischerweise einen deutlich größeren Landesbezug als Zugezogene aus anderen Bundesländern auf.
Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung von Artikel 3 Absatz 1 und Artikel 6 Absatz 1 GG sowie einen Verstoß gegen § 109 und § 98 Absatz 2 SGB XII. Für die vorgenommene Differenzierung sei kein sachlicher Grund erkennbar. Der Kläger halte sich auch aus persönlicher Verbundenheit in Niedersachsen auf. Sein einziger Sohn lebe dort. Die Anordnung der entsprechenden Anwendung des § 109 SGB XII diene nicht dem Zweck, bei Aufnahme in einer stationären Einrichtung im Sinne des § 98 Absatz 2 SGB XII einen Leistungsausschluss herbeizuführen. Sie regele vielmehr Fälle einer Zuständigkeitskonkurrenz, die hier zu Sachsen aber nicht bestehe, und ließen im Übrigen den Leistungsanspruch des Berechtigten unangetastet.
Verfahrensgang:
Sozialgericht Hannover, S 18 BL 2/18, 16.03.2020
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, L 8 BL 1/20, 18.01.2024
Sämtliche Vorschauen zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 45/24.
Terminbericht
Die Revision des Klägers war ohne Erfolg. Er hat ab Dezember 2017 keinen Anspruch auf niedersächsisches Landesblindengeld.
Nach der Auslegung der insoweit irreversiblen Anspruchsgrundlage des Landesblindengeldgesetzes durch das Landessozialgericht hat der aus Sachsen zugezogene Kläger bei der Aufnahme in das Pflegeheim in Hannover keinen gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne des Gesetzes begründet.
Die revisionsrechtliche Prüfung des vom Landesozialgericht gefundenen Auslegungsergebnisses ist auf eine Willkürkontrolle beschränkt. Dessen anspruchsausschließende Auslegung bei Zuzug von blinden Menschen in ein Pflegeheim ohne vorangegangenen gewöhnlichen Aufenthalt in Niedersachsen ist nicht in offensichtlich unhaltbarer Weise fehlerhaft. Das Landessozialgericht hat den von ihm angenommenen Bedeutungsgehalt der einschlägigen Regelungen des Landesblindengeldgesetzes in Anwendung anerkannter Auslegungsmaßstäbe festgestellt.
Das hiernach vom Berufungsgericht gefundene und den Senat bindende Auslegungsergebnis verstößt nicht gegen das Recht des Klägers auf Freizügigkeit aus Artikel 11 Absatz 1 Grundgesetz, weil er auch ohne Blindengeldgewährung wirtschaftlich nicht am Umzug in das Pflegeheim nach Niedersachsen gehindert war. Ebenso wenig liegt eine Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes des Artikels 3 Absatz 1 Grundgesetz vor. Die Nichtgewährung von Blindengeld für blinde Menschen, die in ein Pflegeheim ohne vorangegangenen gewöhnlichen Aufenthalt in Niedersachsen ziehen, ist sachlich gerechtfertigt. Als zentraler Bestandteil einer beabsichtigten länderübergreifenden Harmonisierung der Landesblindengeldgesetze sollten blinde Menschen, die sich in stationären Einrichtungen aufhalten, Blindengeld von dem Bundesland erhalten, in dem sie vor Aufnahme in einer solchen Einrichtung ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatten. Dass Sachsen - im Gegensatz zu Niedersachsen und anderen Ländern - keine dementsprechende Harmonisierungsregelung geschaffen hat, mit der Folge des Wegfalls des Anspruchs auf sächsisches Blindengeld für den Kläger bei Aufnahme in ein Pflegeheim außerhalb Sachsens, begründet von Verfassungs wegen keine Verpflichtung des Landes Niedersachsen, einen diesen Anspruchsverlust ausgleichenden Anspruch auf niedersächsisches Blindengeld zu schaffen. Schließlich führt die Auslegung des Landesblindengeldgesetzes durch das Landessozialgericht nicht zu einem Verstoß gegen Artikel 6 Absatz 1 Grundgesetz. Es widerspricht nicht dem Gebot des Schutzes der Familie, wenn ein Bundesland freiwillige Leistungen - wie das Blindengeld - an den dortigen gewöhnlichen Aufenthalt außerhalb einer stationären Einrichtung knüpft.
Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 45/24.